© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/12 30. März 2012

Deutschland, deine Kommissare
Brüssel: Ein Blick auf die Biographien der deutschen Vertreter in den EU-Kommissionen dokumentiert die infantile Verweigerungshaltung der Bundesrepublik, Verantwortung zu übernehmen
Albrecht Rothacher

Kommissare arbeiten in einer komplexen Dreiecksbeziehung. Sie dienen im Spannungsfeld zwischen den politischen Entscheidungsträgern im Rat und zunehmend auch im Parlament einerseits, ihren nationalen Regierungen andererseits, zu denen sie auch ohne die verbotene Einholung von Instruktionen unverzichtbare Mittelsleute bleiben, sowie nicht zuletzt auch im Kontext der jeweiligen Kommission, geleitet von einem mehr oder minder starken Präsidenten – als sehr durchsetzungsfähig galten nur Hallstein und Delors. Sie werden von einem Kabinett mit in der Regel sechs Mitarbeitern im höheren Dienst sowie von einer Generaldirektion (manchmal auch zwei kleinere oder mehr), deren Generaldirektor von einem politischen Karrierebeamten einer anderen Nationalität geleitet wird – die Beziehung ist sehr wichtig, aber nicht immer spannungsfrei –, hoffentlich effektiv unterstützt.

In der Tat sind Kommissare nicht allmächtig. Sie entscheiden in einem Kollegialsystem und haben, ohne Ressortminister zu sein, vertraglich und institutionell beschränkte Zuständigkeiten. Oft genug konnten sie ihre persönlichen Vorstellungen nur sehr unvollkommen umsetzen.

Ist es also zweitrangig, wen unsere Regierungschefs (1967 bis 2004 war in Deutschland der Vizekanzler gelegentlich autonom in seiner Nominierung des zweiten Kommissars), abgesegnet von einem Kabinettsentscheid, nach Brüssel schicken? Das scheint in der Tat die Prämisse der Entscheider seit 1970 gewesen zu sein: von Willy Brandt und Walter Scheel bis zu Angela Merkel.

Die deutschen Rekrutierungsentscheidungen entsprechen seit 1970 einem gängigen überparteilichen Muster. Mit vierzehn Ernennungen in einer Zeitspanne von über vier Jahrzehnten umfassen die Entscheider mit Brandt/Schmidt, Kohl und Schröder/Merkel mindestens drei politische Generationen, so daß von Ausrutschern oder singulären Fehlentscheidungen bei dem sichtbar systematischen Mittelmaß die Rede nicht länger sein kann. Die hartnäckige Weigerung der deutschen politischen Klasse, international erfahrenes Führungspersonal in ihre Reihen zu kooptieren und sie in europäische Führungsfunktionen zu entsenden, entspricht einer mittlerweile schon infantil anmutenden Verweigerungshaltung, internationale und europäische Verantwortung zu übernehmen.

Allzu gerne überläßt man diesen Part den Franzosen, die diese Rolle mit einer Vielzahl hochqualifizierter, über die Jahrzehnte in beiden politischen Lagern beheimateter, systematisch geschulter und geförderter Führungskader der mittleren und Spitzenklasse (für guten ehrgeizigen Nachwuchs wird stets gesorgt) mit Vergnügen und nicht uneigennützig im französischen Interesse wahrnehmen. Das Ergebnis ist deutscherseits dann nörglerischer Mißmut. Man sieht die Absicht, erträgt zähneknirschend die industriepolitischen und regulativen Nachteile, zieht das Portemonnaie, zahlt wie eh und ist einmal mehr nachhaltig verstimmt. Man sollte sich dann aber lieber doch an die eigene Nase fassen. Doch hat mittlerweile der Bazillus teutonicus, schwache Führungsgestalten nach Europa zu entsenden, nach dem Abgang von Jacques Delors (1995) fast die gesamte EU befallen. Ähnlich wie die Kürfürsten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, die gerne einen Kaiser wählten, der ihre Kreise nicht stören sollte, erscheinen profillose Führungsschwäche und konturenloses Kompromißlertum seither als Hauptqualifikationsmerkmale für EU-Spitzenposten.

Mit dem Antritt der rot-grünen  Koalition wurde Günter Verheugen im September 1998 Staatsminister im Auswärtigen Amt unter Joschka Fischer. Dies war im Alter von 54 Jahren sein erstes staatliches Amt, eine Funktion, in der Verheugen denkbar unglücklich war. Zum einen, weil er sich – was nicht allzu schwer und durchaus nachvollziehbar war – für den besseren Außenminister hielt, zum anderen, weil der ruppige und launische Fischer seine Behandlung als Kellner des Bundeskanzlers in seinem Ministerium umkehrte und seinen Staatsminister als besseren Grüßaugust für mindere Staatsbesucher und nachrangige Termine einsetzte. Immerhin konnte Verheugen während der deutschen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 1999 jede Menge Brüsseltermine wahrnehmen, die sein an geregelter Arbeit desinteressierter Chef gern an ihn abtrat.

Als mit dem Rücktritt der Santer-Kommission Mitte 1999 unverhofft auch die beiden Kommissarposten vakant wurden, da sowohl der amtsmüde Bangemann als auch die eigentlich noch verwendungswillige Wulf-Mathies als angeschlagen galten, signalisierte Verheugen sein Interesse, da ihn in Berlin unter Fischer nichts und niemand hielt.

In Brüssel erhielt er von Romano Prodi das Erweiterungsdossier, das zuvor von dem Atlantiker Hans van den Broek mit kühler Distanz geführt worden war. Der Ostpolitiker Verheugen riß das Dossier mit großer Leidenschaft an sich und sollte von ihm bis zur Unterzeichnung der Beitrittsverträge nicht mehr lassen.

Im Blick auf die menschenverachtenden Benes-, Bierut- und Avnoj-Dekrete, mit denen die Nachkriegsregime der Tschechoslowakei, Polens und Jugoslawiens die Vertreibung, Enteignung und Ermordung der Volksdeutschen (in der Slowakei waren auch die Ungarn betroffen) für rechtens und straffrei erklärten, meinte der Herr Kommissar, ihre fortgesetzte Gültigkeit sei mit den EU-Rechtsnormen völlig vereinbar und stehe nicht im Widerspruch zu den politischen Beitrittsbedingungen. Das rot-grüne Berlin widersprach nicht. Die halbherzige Opposition aus Wien und München ignorierten Kommission, Ministerrat und Parlament souverän. Dagegen wurde Verheugen gegenüber Kroatien sehr streng und unnachsichtig: „Wer nicht bereit ist, die Verbrechen der Jugoslawienkriege aufzuklären und die Schuldigen bestrafen zu lassen, erfüllt die Voraussetzungen für die Mitgliedschaft der EU nicht.“ Wohlgemerkt, es handelt sich nicht um die Massenmorde der Tito-Partisanen nach dem 8. Mai 1945!

Widersinniger geht es wohl nicht. Für den Immobilienerwerb von EU Ausländern akzeptierte Verheugen die Forderung der Polen nach Übergangszeiten von 5 Jahren (d.h. bis 2009) für Zweitwohnsitze und von 12 Jahren (d.h. bis 2016) für landwirtschaftliche Flächen und Wälder, eine Forderung polnischer Chauvinisten, die explizit ausschließen sollte, daß sich die alternde vertriebene Erlebnisgeneration noch ihren geraubten Besitz zurückkaufen konnte.

Die Infamie dieses offen diskriminierenden Ansinnens und Verheugens vorauseilende Botmäßigkeit sind insofern schwer faßlich, als jene heute kaum noch vitale Minderheit unter den 14 Millionen Vertriebenen und Ostflüchtlingen die einzige bürgergesellschaftliche Gruppe Mitteleuropas darstellt, die ein ernsthaftes persönliches Interesse an ihrer alten Heimat zeigt und auch zu materiellen Opfern zur Restaurierung verkommener Residenzen, Dörfer und Schlösser bereit gewesen wäre. Diese Chance verstreicht nunmehr tragischerweise ungenutzt. Zu recht beklagt Verheugen sich: „Europäische Eliten haben es (...) auf den heutigen Tag nicht für nötig (ge)halten, sich ein eigenes Bild von der Entwicklung der Transformationsstaaten zu machen.“ Seine Toskana-Fraktion hat sich nach den obligaten Prag- und Budapestwochenenden längst wieder dem sonnigen Süden zugewandt. Die bei ihm vorsprechenden Delegationen der Vertriebenenverbände hat er mit leeren Versprechungen abgespeist. Seine Willfährigkeit vor der angedrohten nationalistischen Agitation in den Vertreiberstaaten ließ ihn antieuropäisch diskriminierenden Regelungen zustimmen, die weder dem wirtschaftlichen Interesse der betroffenen Regionen noch der Aussöhnung und der gutnachbarlichen Zusammenarbeit dienlich waren.

Es spricht für Verheugens politisches Talent und die Charakterlosigkeit der damaligen Berliner Politik, daß er all dies nahezu widerstandsfrei durch den Rat und das Europäische Parlament brachte. Die sich selbst entmannenden nationalen Parlamente nickten ohnehin im wohlorchestrierten Feierstundenrausch 2003 bis 2005 alle Beitrittsverträge ungeprüft ab. Wieder zu Recht wies er darauf hin, daß nationale Debatten zu formen in beiden Länder jeden Anreiz und Handhabe, gegen die endemische Korruption und gegen die Verfilzung von organisierter Kriminalität mit den ungesäuberten herrschenden Nomenklatura Seilschaften vorzugehen. Die Herrschaften konnten sich entspannt zurücklehnen. Der Zugang zu den reichen Futtertrögen der EU, vorbehaltlich vieler nerviger, aber beruhigend unverbindlicher und wohlfeiler Bekenntnisse zur Rechtsstaatlichkeit und guten Regierungsführungen, war ihnen sicher. Der Fluch jenes gut gemeinten Dilettantismus kostet die Union heute und in der Zukunft viel Geld.

 

Albrecht Rothacher ist langjähriger Mitarbeiter der Europäischen Kommission und derzeit Erster Botschaftsrat der EU-Delegation in Tokio. Der Text ist ein Auszug aus seinem Buch „Die Kommissare“. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Albrecht Rothacher: Die Kommissare. Vom Aufstieg und Fall der Brüsseler Karrieren. Eine Sammelbiographie der deutschen und österreichischen Kommissare seit 1958, Nomos-Verlag 2012, broschiert, 254 Seiten, 44 Euro

Foto: Ex-EU-Kommissar Günter Verheugen: Gut gemeinter Dilettantismus

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