© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/12 30. März 2012

Die Treibhauseffekte des modernen Nomadentums
Die blühende Tourismusbranche gefährdet die propagierten „Klimaziele“ der EU / Einschränkung des Flugverkehrs?
Christoph Keller

Die Zahlen der Welttourismusorganisation (UNWTO) legen den Gedanken nahe, augenblicklich verwandle der Mensch sich zurück zu nomadischer Existenz. Denn weltweit 940 Millionen „Ankünfte“ von Freizeit- und Geschäftsreisenden könnten für diese Regression sprechen. Der alte Kontinent ist dabei immer noch die wichtigste Tourismusregion, da der innereuropäische Reiseverkehr zusammen mit den Besuchen aus Übersee über die Hälfte der globalen Reisebewegungen ausmacht. Zehn Milliarden Inlandsreisen und Tagesausflüge verfestigen darüber hinaus das Bild vom modernen Nomadentum. Wenn neben den Europäern bald auch Chinesen und Inder vor allem das Fluggastaufkommen auf immer neue Rekordhöhen heben, sehen die Freiburger Geographen Stefan Gössling und Tim Freytag an einer wichtigen ökologischen Front dunkle Wolken aufziehen (Geographische Rundschau, 3/12).

Denn der Tourismus ist für beinahe ein Fünftel der Treibhausgasemissionen im EU-Bereich verantwortlich. Bei ungebrochener Reiselust könnte daraus bis 2020 ein Drittel werden. Das vertrage sich nicht mit dem Klimaschutzziel der EU, bis dahin die Emissionen um 20 Prozent reduzieren zu wollen. Zwar unterbrach die globale Finanz- und Wirtschaftskrise den touristischen Aufwärts­trend im Jahr 2009, als die Ankunftszahl auf 880 Millionen absank. Alle Indikatoren sprechen jedoch für einen nur kurzzeitigen Einbruch.

Die Emissionen dürften also von 250 Millionen Tonnen CO2 (2008) auch bei konservativer Annahme der UNWTO-Statistiker bis 2020 um 40 Prozent auf 350 Millionen Tonnen steigen. Ungeachtet rückgängiger Zahlen bei den Gesamtemissionen seit 2001 sei leider in der europäischen Tourismusbranche gegenläufig ein „ungebremster Emissionszuwachs“ zu registrieren, der „mit besonderer Dynamik“ das Erreichen der steilen EU-Klimaschutzziele gefährde. Da Gössling und Freytag bei einer Zunahme der durchschnittlichen Reiseentfernung und der Energieintensität der genutzten Transportmittel, zumal auf der Basis optimistischer Einschätzungen der Wohlstandsentwicklung einer wachsenden Weltbevölkerung, von unaufhaltsam steigenden Emissionsbelastungen ausgehen, die 2035 um 130 Prozent über dem aktuellen Stand lägen, tun sie sich mit Alternativen schwer.

Wolle die EU-Kommission ihre Klimapolitik retten, so empfehlen sie als „konkrete Ansatzpunkte“ lediglich den Stopp des Ausbaus von Flughäfen und die Einführung einer Flugverkehrsabgabe. Um zugleich ratlos einzugestehen: „Dafür gibt es jedoch derzeit keine wirklich ermutigenden Anzeichen.“

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