© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/12 06. April 2012

„Im Denken und Fühlen eine Einheit“
Syrien: Machtkampf zwischen Opposition und Assad-Regierung bringt neue Impulse in der Kurdenfrage
Günther Deschner

Wegen eines Streits über offene Zahlungen hat die Autonome Region Kurdistan ihre Ölexporte nach Bagdad eingestellt. In der Türkei haben Regierungschef Erdoğan und seine AKP die Gespräche mit den türkischen Kurden an die Wand gefahren. Und auch der Machtkampf in Damaskus bringt neue Spannungen mit den Kurden Syriens. Das seit Jahrzehnten schwelende Kurdenproblem taucht wieder auf.

Als vor einem Jahr die ersten Demonstrationen gegen Baschar al-Assad und gegen die Herrschaft der „Arabischen Sozialistischen Baath-Partei“ begannen, hätten die Kurden, als die größte nicht-arabische Volksgruppe in Syrien, allen Grund dazu gehabt, sich den Demonstrationen anzuschließen. Denn seit der Machtergreifung der panarabischen Baath-Partei 1961 definiert sich Syrien als strikt arabisch – für eine kurdische Identität gab und gibt es dort keinen Spielraum. Von Anfang an betrachtete das Regime die Kurden des Landes vielmehr als eine Gefahr. 1962 wurde 150.000 Kurden die syrische Staatsbürgerschaft sogar entzogen. Sondergesetze untersagten unter anderem, die kurdische Sprache offiziell zu sprechen.

So war es durchaus naheliegend, daß die syrisch-kurdischen Politiker zögernd auf die Revolution reagierten und eine frühzeitige Beteiligung daran ablehnten. „Das Baath-Regime hat immer versucht, die Kurden als Separatisten und innere Feinde darzustellen. Wenn wir angefangen hätten, hätten sie das als Vorwand für neue Unterdrückungsmaßnahmen genommen“, so Kurdenpolitiker Abadul Baki Youssef.

Doch zur Zurückhaltung der Kurden trägt auch die syrisch-arabische Opposition gegen Assad selbst bei, in deren Proklamationen bisher die kurdische Volksgruppe – die zwei bis drei Millionen der 23 Millionen Syrer ausmacht – und ihre Rechte nicht einmal erwähnt worden sind. Als der Vorsitzende des oppositionellen Syrischen Nationalrates SNC (Syrian National Council), Burhan Ghaliun, kürzlich auch noch strikt darauf bestand, Syrien habe „eine arabische Identität“, ließ die Reaktion der Kurden nicht lange auf sich warten, zumal Ghaliun ihre Stellung in Syrien mit jener der Migranten in Frankreich verglichen hatte. „Der Professor Ghaliun sollte doch wissen, daß es bis zum britisch-französischen Sykes-Picot-Abkommen von 1916 gar kein Syrien in seinen heutigen Grenzen gab“, so der Kommentar eines kurdischen Journalisten, der an die willkürlichen Grenzziehungen der Kolonialmächte in der Region erinnerte, welche das kurdische Siedlungsgebiet zerrissen und zwischen der Türkei, dem Irak und Syrien aufteilten.

Zudem sind im SNC viele Muslimbrüder vertreten, mit denen sich die Kurden traditionell nicht verstehen. Die radikalen Islamisten fokussieren auf die gemeinsame Religion als Identität und wollen sich nicht mit ethnischen Diskussionen befassen. Für die Kurden indes bleibt die Anerkennung ihres Volkstums und ihrer kulturellen Rechte und Eigenarten oberste Priorität. Hieraus erklärt sich auch, weshalb die syrischen Kurden – obwohl die meisten von ihnen (gemäßigte) Anhänger der sunnitischen Konfession sind – bislang keine islamisch-kurdische Partei gebildet haben.

Zur Wahrnehmung der Interessen der kurdischen Volksgruppe in Syrien wurde Ende 2011 in Kamishli im kurdisch besiedelten Nordwesten des Landes ein „Kurdischer Nationalrat“, KNCS (Kurdish National Council Syria), gegründet, der für sich in Anspruch nimmt, die große Mehrheit der kurdischen Bevölkerung zu repräsentieren. Rund ein Dutzend kurdische Organisationen und viele unabhängige Persönlichkeiten sind darin vertreten. Mit diesem Rat wollen die Kurden ihre Einheit signalisieren und in einem „neuen Syrien“ die stärkere Berücksichtigung ihrer Interessen durchsetzen.

Trotz seiner klaren Positionierung als die legitime Vertretung der syrischen Kurden, hat sich der Kurdische Nationalrat von Anfang an darum bemüht, seine Koalitions- und Dialogfähigkeit unter Beweis zu stellen: Man hat bereits Gespräche mit der Arabischen Liga geführt und bemüht sich auch international um Verständnis für die kurdischen Anliegen. Unter anderem kam es Mitte März zu einem Treffen von Sprechern des KNCS mit Vertretern des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages in Berlin.

Daß der Rat gerade in der Stadt Qamishli gegründet wurde, die direkt an die Kurdengebiete der Türkei und des Irak angrenzt, ist von starker Symbolkraft dafür, daß die Kurdenproblematik nicht nur in Syrien ungelöst ist und daß das Zusammengehörigkeitsgefühl des 30-Millionen-Volks der Kurden auch über trennende Staatsgrenzen hinweg lebendig ist. Jüngstes Beispiel dafür ist, daß der „Kurdische Nationalrat Syriens“ Anfang Februar seine erste Konferenz mit 250 Delegierten aus Syrien und 31 weiteren Ländern in Erbil, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan des Irak, unter dem Patronat des dortigen Präsidenten, Masud Barsani durchführen konnte. „Wir werden euch unterstützen können, wenn ihr einheitlich auftretet“, sagte Barsani in seiner Rede vor den syrischen Kurden, „wenn ihr nicht nur ‘Parteipolitik’ betreibt, sondern euch in Syrien für das ganze kurdische Volk engagiert und wenn ihr euch zur Gewaltfreiheit bekennt. Wenn die Kurden auch gegen ihren Willen getrennt worden sind, wird sie doch niemand davon abbringen können, sich in ihrem Denken und Fühlen als Einheit zu betrachten.“

Foto: Kurdischer Anti-Syrien-Protest in Beirut: Zusammengehörigkeitsgefühl über die Staatsgrenzen hinaus

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