© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/12 06. April 2012

Ein Ufo am Euro-Himmel
Europäische Zentralbank: Die Target2-Forderungen der Bundesbank belaufen sich auf eine halbe Billion Euro
Patrick Eichenberger

Für die meisten Deutschen ist „Target2“ im besten Fall ein unbekanntes Flugobjekt (Ufo) am Euro-Himmel. Dabei wurde der Target2-Mechanismus bereits 2007 als Echtzeit-Brutto-Verrechnungssystem (Real Time Gross Settlement/RTGS) des Euro-Systems eingeführt. RTGS-Zahlungen werden als „Push“-Zahlungen bezeichnet, die vom Zahlenden angeschoben werden.

Der Begriff „Target2“ ist ein modern klingendes Kürzel und steht für Trans-European Automated Real-time Gross Settlement Express Transfer System. Im Zuge der Finanz- und Euro-Schuldenkrise sind wenige private Investoren und Banken bereit, die Bankrottländer zu finanzieren. Die Krise hat eine Kapitalflucht aus den PIIGS-Staaten (Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien) nach Deutschland initiiert, denn die dortigen Geschäftsbanken mußten Kundengelder über das Target2-System der jeweiligen Zentralbanken in Richtung Deutschland transferieren.

Die Gelder flossen über die Clearingstelle der Europäischen Zentralbank (EZB) an die Bundesbank, die diese Guthaben an die deutschen Geschäftsbanken überweisen, wo sie auf den jeweiligen Konten der Privatanleger aus den PIIGS-Staaten wieder gutgeschrieben werden. Aber es fließen auch hohe Geldguthaben aus deutschen risikoscheuen Pensionskassen, Lebensversicherungen und anderen Cash-Positionen an die Bundesbank, die das Geld fast zinslos hortet oder aber im Gegenzug gegen niedrigverzinsliche Staatsanleihen tauscht.

Das Zentralbanksystem hat sich im Rahmen seiner Vollzuteilungspolitik verpflichtet, den Zentralbanken der PIIGS-Staaten Buchgeld zuzuführen, die ihrerseits dies dringend benötigen, zumal das Interbankengeschäft zeitweise zum Erliegen kommt und weder private Investoren noch Geschäftsbanken im Norden den Geschäftsbanken im Süden trauen. Da den Geschäftsbanken im Süden durch die Kapitalflucht in Richtung sicherer Nordhafen viel Zentralbankguthaben entzogen wurde und Geschäftsbanken im Norden mit Zahlungen zurückhaltend sind, mußten PIIGS-Geschäftsbanken die Refinanzierungsgeschäfte mit den jeweiligen Nationalbanken ausweiten.

Diese Geschäfte waren seit Ausbruch der Euro-Krise in wachsendem Ausmaß nur deshalb möglich, weil die jeweils gültigen Besicherungskriterien durch die EZB laufend gesenkt wurden, so daß eben auch Ramschanleihen als Staatspapiere oder andere minderwertige Wertpapiere als „Sicherheiten“ bei den nationalen Zentralbanken und der EZB akzeptiert wurden. Banken der PIIGS-Staaten können eigene Anleihen herausgeben und profitieren von der liberalen Offenmarktpolitik der EZB, die früher auf ordentliche Besicherungen bestanden hatte.

Diese unsicheren Wertpapierpensionsgeschäfte werden mit der jeweiligen Zentralbank elektronisch gegen Buchgeld unter Abzug eines Schlagsatzes verrechnet. Die Zentralbanken wiederum „transferieren“ diesen Mix an Wertpapierpositionen via EZB und über dieses Echtzeit-Brutto-Clearingsystem an die Bundesbank, die diese als Target2-Forderungen auftürmt. Statt im Durchschnitt mit allen anderen Zentralbanken eine Saldo-Position um Null herum zu verbuchen, hat die resultierende Saldogröße aus der Sicht der Bundesbank seit 2007 stetig zugenommen. Diese Realität ist Ausdruck von zweierlei Mißständen:

1. Spannungen an den Finanzmärkten: Der Interbanken-Sektor, insbesondere in den hoffnungslos überschuldeten PIIGS-Staaten, liegt praktisch brach und vermag aus Vertrauensmangel weder private Investoren noch Geschäftsbanken aus dem Norden zu substantiellen Geldströmen in Richtung der PIIGS-Staaten zu bewegen, um dort die Alimentierung der Wirtschaft mit genügendem Cash sicherzustellen.

2. Zahlungsbilanzungleichgewichte: Das Auseinanderklaffen der Wettbewerbspositionen zwischen dem Norden (Deutschland, Niederlande, Frankreich) und dem Süden (PIIGS-Staaten) wird größer und weist keineswegs auf die allseits lang ersehnte Synchronisierung der Euro-Zone hin. Die durchschnittlichen weltweiten Wettbewerbspositionen (World Economic Forum Competitiveness Study, Genf) haben sich in der Zeit von 2008 bis 2012 für die PIIGS-Staaten von 42 auf 51 stetig verschlechtert.

Die durchschnittlichen Wettbewerbspositionen haben sich in der gleichen Zeitspanne für die Länder Frankreich, Niederlande und Deutschland auf Position 10 stabilisiert, wobei Frankreichs Stellung sich um besorgniserregende drei Stellen (von Rang 15 auf 18) verschlechtert hat – die Grande Nation könnte bald selbst zum Problemfall mutieren.

Fakt ist: Die EZB wird auch in Zukunft genötigt sein, mittels einer expansiven Geldpolitik (nach Vorbild von „quantitative ease“ des US-Pendants Federal Reserve) und in Verbindung mit einer Aufweichung der Kriterien für zentralbankfähige Wertpapiere massiv billige Geldmittel in das Euro-System zu pumpen, um sowohl den Bankensektor als auch die Wohlfahrtsgemeinschaft der Euro-Zone am Leben zu erhalten. Damit gibt die EZB ihre ursprüngliche Rolle als Hüterin von Preisstabilität auf und nimmt stillschweigend Inflation in Kauf.

Gegenwärtig belaufen sich die Target2-Forderungen der Bundesbank auf rund 548 Milliarden Euro, die jedoch weder seriös besichert noch veräußerbar sind. In den USA werden allfällige Saldoguthaben der zwölf Fed-Distrikte aus dem dortigen Clearing-System einmal pro Jahr über die Fed in Washington mit Gewinnen aus der Seigniorage (Münzgewinn) verrechnet, die durch die Emission von Zentralbankgeld entstehen. Im Euro-Raum dagegen erfolgt weder ein Tausch noch eine Verrechnung von Saldoguthaben bestehender Target2-Forderungen.

Demnach agieren diese wachsenden Salden aus Target2-Forderungen faktisch als systembedingte Kredite und wirken als vorgelagerter Rettungsschirm. Neben EFSF und ESM kennt die Euro-Zone also auch noch diesen verdeckten, dritten Rettungsschirm, dessen Risiken mehrheitlich von deutschen Steuerzahlern getragen werden. Ob da das stolze AAA-Toprating für Deutschland noch lange gerechtfertigt ist?

Zwei Auswege aus diesem Automatismus sind denkbar, der unbeabsichtigt Ungleichgewichte durch Saldeneröffnung von Target2-Forderungen schafft: Entweder bricht die Euro-Zone auseinander und die aufgelaufene halbe Billion Euro Saldoguthaben der Bundesbank wird nach zähen Verhandlungen mit den Partnerstaaten unter Abzug eines hohen Abschlagssatzes von 70 bis 90 Prozent verrechnet.

Oder aber die Stimmung der Marktteilnehmer dreht sich nachhaltig ins Positive. Vielleicht sogar mit begründetem Optimismus für den Euro-Süden und eher verhaltenem Pessimismus für den Norden. Spätestens in diesem Fall würden die Geldströme sich umkehren und die Guthaben der Bundesbank aus Target2-Forderungen schwinden und mit der Zeit gar in Negativsalden kippen. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Aber auch die Hoffnung ist sterblich.

 

Prof. Dr. Patrick Eichenberger, Jahrgang 1963, ist als Referent an der Hochschule für Wirtschaft Zürich (HWZ) tätig. www.speech-on-demand.com

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