© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/12 06. April 2012

Europa in der Aufklärungsfalle
Im Abendlicht
Thomas Bargatzky

Universelle Menschenrechte, Säkularisierung, Zivilgesellschaft, Redefreiheit, Marktwirtschaft, bürgerliche Freiheiten – dies alles ist in Europa untrennbar mit der Aufklärung verbunden. Was aber ist Aufklärung? Keiner, der sich diese Frage stellt, kommt an Immanuel Kants Definition aus dem Jahre 1784 vorbei: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“

Wer die Moderne auf den Prüfstand der Kritik stellt, setzt sich leicht dem Verdacht aus, „von gestern“ oder nicht recht bei Troste zu sein. Die Industrialisierung gilt jedoch unbestreitbar als legitimer Gegenstand kritischer Betrachtungen, und auch eine so folgenreiche Entwicklung wie die Aufklärung darf nicht von vornherein von der Kritik ausgenommen werden. Auch in ihrem Falle müssen Anspruch und historische Folgen verglichen werden, ein Befund muß festgestellt und bewertet werden.

Es wäre freilich wenig nützlich, nur Defizite und Fehlentwicklungen zu beklagen. Die Aufklärung ist aus der Entwicklung der westlichen Moderne nicht hinwegzudenken, man kann nicht mehr hinter sie zurückgehen. Eine sinnvolle Kritik der Aufklärung soll vielmehr den Versuch unternehmen, diese im Hinblick auf ihre Ziele und deren historische Voraussetzungen zu verstehen und sodann deutlich machen, wo sie zu Fehlentwicklungen geführt hat.

Die Aufklärung ist eine spezifisch europäisch-abendländische Erscheinung, die ihre Wurzeln tief in der Vergangenheit hat, in der in Spätantike und Mittelalter einsetzenden Trennung von Kirche und Staat, auch wenn sie erst spät, im 18. Jahrhundert, unter diesem Namen an Kraft und Überzeugung gewann. Durch die Aufklärung trat Europa gleichsam aus der Geschichtsgemeinschaft mit den Weltkulturen aus und begab sich auf einen Sonderweg. Die Herausbildung von Bürgertum, Industrialisierung und Nationalstaat waren die historisch notwendigen Folgen. Die Trennung von Religion und Staat wurde konsequent durchgeführt, Religion zur Privatsache. Die öffentliche Ordnung wurde hinfort nicht mehr religiös legitimiert, aber dennoch höhergestellt als die Interessen der Familie, des Stammes oder Standes in der vormodernen gesellschaftlichen Ordnung.

Unter den Bedingungen der Moderne veränderte sich jedoch nicht nur das Gefüge der Beziehungen der Menschen zueinander und zu Gott, sondern die Aufklärung, als spezifisch europäische Kulturrevolution, durchformte Denken und Handeln so grundlegend, wie es zuvor nur dem Monotheismus gelungen war. Der Ethnologe und Philosoph Ernest Gellner hat es auf den Punkt gebracht: Das Erkennen löste sich von der Autorität. Nicht mehr transzendente Mächte und ihre irdischen Vertreter gaben dem Leben Halt und Orientierung, sondern die Erkenntnis wurde autonom, sie sollte nur noch ihrer eigenen Zwecksetzung gehorchen und durch keine anderen Rücksichten mehr eingeschränkt sein.

Die Erkenntnisprinzipien der Aufklärung „erfordern Gleichförmigkeit der Erklärungen und den Verzicht auf jegliche Unterscheidung zwischen Heiligem und Profanem. Die Elemente, aus denen die Welt besteht, sind allesamt von derselben Art“ (Ernest Gellner: Pflug, Schwert und Buch, 1993). Aber verdankt sich denn die moderne Wissenschaft nicht der Aufklärung? Hat sich Europa nicht durch seine Wissenschaft an die Spitze der kulturellen und zivilisatorischen Weltentwicklung gestellt? Und ist nicht diese wissenschaftliche und zivilisatorische Stellung der Gedankenfreiheit geschuldet, der Emanzipation des Denkens von religiöser Gängelung durch die Kirche? Was sollte also an der Aufklärung kritikwürdig sein?

Daß wissenschaftliche Höchstleistungen und religiöse Durchdringung aller Lebensbereiche durchaus miteinander vereinbar sind, dafür steht das Beispiel des Islam. Hätte man um das Jahr 1000 einen fiktiven Beobachter gefragt, welcher Kontinent wohl in weiteren 1.000 Jahren die Welt dominieren würde, und hätte dieser fiktive Beobachter dann Europa genannt, so hätte ihm niemand geglaubt. Um diese Zeit war Europa gegenüber China und der islamischen Welt weit zurückgeblieben. China besaß damals zwar eine hochstehende Wissenschaft und Kultur, aber unser Beobachter hätte wohl eher die islamische Zivilisation als zukünftigen Weltherrscher benannt.

Die chinesische Kultur war, bei aller Größe und zivilisatorischen Hochentwicklung Chinas, letztlich auf eine bestimmte Menschengruppe begrenzt. China blieb eine Regionalmacht. Während seines „Goldenen Zeitalters“ zwischen 700 und 1500 nach Christus entwickelte der Islam dagegen die erste Weltkultur, die sich über drei Kontinente erstreckte und eine erstaunliche Vielzahl von Menschen mit weißer, schwarzer, gelber und brauner Hautfarbe zu einer großen Glaubensgemeinschaft vereinigte.

Der Islam war die größte wirtschaftliche und militärische Macht auf Erden, Künste und Wissenschaften gelangten zu bis dato unerreichten Höhen in der Geschichte der Menschheit. Das intellektuelle Erbe der Antike war in Europa seinerzeit weithin in Vergessenheit geraten; es wurde durch islamische Denker vom Kaliber eines Ibn Ruschd oder eines Ibn Sina weitergetragen und fortentwickelt. Religion an sich behindert also auf lange Sicht die Entwicklung der Wissenschaft nicht, wie dieses Beispiel zeigt.

Der Niedergang der muslimischen Welt seit 1500 und der militärische, wirtschaftliche, politische und kulturelle Aufstieg des Abendlandes ist vielmehr nach Ansicht vieler anerkannter Historiker wie Eric Jones der typischen politischen Zersplitterung Europas, insbesondere des Heiligen Römischen Reiches geschuldet. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß Europas politische Schwäche langfristig zur Grundlage seiner politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Stärke wurde, denn der grenzüberschreitende Wettbewerb der Ideen, die politische, wirtschaftliche und kulturelle Konkurrenz der Ministaaten und Städte wurde durch keinen despotischen Zentralismus behindert, wie es zum Beispiel in der langen Endphase des Osmanischen Reichs der Fall war.

Und während Chinas Kaiser im 15. Jahrhundert auf den Rat seiner Priesterschaft hin das Ende der imponierenden chinesischen Hochseeschiffahrt anordnete, ging Kolumbus einfach zum nächsten Magistrat oder Fürsten, um zu bekommen, was er sich wünschte. Ohne Kolumbus und seinesgleichen keine überseeische Expansion Europas und ohne Reformation keine moderne Wirtschaft, wie Max Weber dargelegt hat. Kein Kaiser, kein König, kein Papst konnte Luthers Landesherrn, Kurfürst Friedrich den Weisen von Sachsen, dazu zwingen, den widerspenstigen Augustinermönch nach Rom auszuliefern. Ohne die reformatorische Idee des unmittelbaren Verhältnisses zwischen Mensch und Gott sowie der daraus folgenden Wertschätzung der Eigenverantwortung und des selbständigen Denkens hätte sich die westliche Moderne mit ihren Signaturen Individualismus, Aufklärung und Kapitalismus wohl kaum so entwickelt, wie es in der Folge geschah.

Die Aufklärung trat ursprünglich zwar für die Emanzipation des Denkens und Handelns von Kirche und Christentum ein, aber nicht für die Befreiung des Menschen von der Religion an sich. Gott, Tugend, Unsterblichkeit galten wohl den meisten Aufklärern als Inhalte einer zukünftigen „Vernunftreligion“. Die Befreiung aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“, auf die Kant und andere Aufklärer ihre Hoffnung setzten, lief jedoch bei dem Versuch aus dem Ruder, mit den Mitteln der Vernunft die Herrschaft der Kirche zu beenden und das Paradies auf Erden zu schaffen.

Die Aufklärung wurde zu Europas Aufklärungsfalle. Durch die Vergottung der nicht mehr an Gott und Kirche, sondern an die Ideologie rückgebundenen Tugend wurde seit der Französischen Revolution das Tor zur Hölle aufgestoßen. Die Zahl der Opfer der spanischen Inquisition in ihrer 350jährigen Geschichte wird von der seriösen Geschichtsforschung auf ungefähr 5.000 geschätzt. Jedes einzelne dieser Opfer ist tragisch und beklagenswert, aber dem Terror der säkularen Utopien von Hitler, Stalin und Mao fielen in kurzer Zeit, konservativ gerechnet, mehr als 100 Millionen Menschen zum Opfer – ein Blutzoll, den kein Attila, kein Dschingis Khan, keine Hexenverfolgung und keine Inquisition der Menschheit je abverlangt hatten.

„Kollateralschäden“ werden derzeit im Namen der Menschenrechte gerne in Kauf genommen, Massenmorde im Namen der Vernunft sind im Augenblick jedoch nicht mehr à la mode. Wir werden dafür seit einigen Jahren zu Zeugen des Wirkens einer „Occupy-Bewegung“ ganz eigener Art, die im Namen der Aufklärung die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens selbst zu zerstören versucht. Die Urheber des klassischen Liberalismus strebten in aufklärerischem Geiste nach wirtschaftlicher, politischer und Gedankenfreiheit als notwendigen Grundlagen einer modernen europäischen Gesellschaft.

Die neuen „Aufklärer“ der sogenannten Kulturlinken („cultural left“) in den USA und Europa fordern darüber hinaus die Befreiung des Individuums von moralischen Grundlagen, ohne die keine Gesellschaft bestehen kann und die alle Völker miteinander teilen. Sie haben in den USA bereits eine Vielzahl von Erfolgen erstritten, zumeist durch die Anrufung der Gerichte und unter Umgehung demokratischer Abstimmungsverfahren, wie im Falle der Freigabe der Abtreibung, der Aushöhlung oder Umgehung der Gesetze gegen die Pornographie und der Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften mit der Ehe. Das Beispiel macht auch in Europa Schule.

Im Namen des politischen Pseudomythos der Einen Welt werden die natürlichen Unterschiede der Geschlechter geleugnet. Die Familien sollen zerstört, die Nationen aufgelöst, die Kulturen und Traditionen durcheinandergewürfelt werden, bis alle Unterschiede ausgelöscht sind. So weit wird es aber nicht kommen, denn dem steht der in Eu-ropa wiedererstarkende Islam entgegen. Im Westen gehegte Hoffnungen auf eine „islamische Aufklärung“ nach europäischem Vorbild entsprechen einem Wunschdenken, das sich die Welt nicht anders vorstellen kann als an der westlichen Radikalsäkularisierung orientiert. Dahinter steht die eurozentrische Illusion, alle Völker der Erde fühlten sich von diesem Modell angezogen und daher laufe die Geschichte zwangsläufig auf seine Verwirklichung hinaus.

Europa ist am Ende seines Sonderwegs angelangt. Mit der ursprünglichen Aufklärung zu Beginn der europäischen Moderne hat die neue, verselbständigte „Turbo-Aufklärung“ nichts mehr zu tun. Was den Aufstieg des Abendlands herbeigeführt hat, führt nun zu seinem Untergang. Warum sollten sich also die in ihrer Mehrheit traditionellen Moralvorstellungen anhängenden Muslime zu einer Lebensweise bekehren, die sie ablehnen, weil sie die Grundlagen des Zusammenlebens der Menschen untereinander und ihrer Beziehung zu Gott zerstört?

Die islamische Welt ist gerade dabei, sich ihre eigene, vitale, nichtwestliche Moderne zu schaffen und bereitet sich darauf vor, zusammen mit China und Indien den Platz des Westens auf der Weltbühne einzunehmen. Aufstieg und Niedergang von Zivilisationen sind der welthistorische Normalfall, diese Regel gilt auch für das Abendland.

 

Prof. Dr. Thomas Bargatzky, Jahrgang 1946, lehrte von 1990 bis 2011 Ethnologie an der Universität Bayreuth. Zuletzt schrieb er auf dem Forum über den säkularen Staat und Integration („Keine Na-tion in der Nation“, JF 23/09).

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