© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/12 13. April 2012

Vom Wahn befallen
Der Dichter im Zeichen der Wirren: Zur ausufernden Debatte um ein Prosagedicht von Günter Grass
Thorsten Hinz

Es ist unergiebig, auf die Akteure und Argumente in der neuesten Nicht-Debatte um Günter Grass näher einzugehen: Auf die Wortmeldungen der Broders, Döpfners, Goldhagens, Schirrmachers, Thomas Schmids, auf die der Quoten-Schwarzen à la Fleischhauer, der politischen Lobbyisten, der ängstlich-dienstbaren Lohnschreiber und der eifersüchtigen Dichter-Kollegen. Die allermeisten Beiträge enthalten keine Substanz, sie sind nur Symptome – Symptome eines Kollektivwahns, den die Funktionseliten als verbindlich durchsetzen wollen. Wenn sich dann noch Guido Westerwelle zu Wort meldet und die Grass-Äußerungen „absurd“ nennt – Westerwelle, der absurdeste Außenminister seit 1949 –, dann ist die Wirklichkeit sogar dem satirischen Zugriff enteilt.

Grass hat eine sehr schlichte politische Stellungnahme verfaßt, sie mit Selbstreflexionen vermengt, in Zeilchen zerhackt und als Gedicht unter die Leute gebracht. Er sieht die Gefahr heraufziehen, daß Israel den Iran mit Atomwaffen angreift, einen Weltkrieg heraufbeschwört, und daß Deutschland, weil es atomar nutzbare U-Boote an Israel liefert, sich mitschuldig macht.

Nun wird der Iran in der Tat dämonisiert, während Israel doppelte Standards zugestanden werden, indes es zum Präventivschlag bläst. Die kritisierte „Heuchelei des Westens“ ist evident. Wer mag garantieren, daß sich die Lüge um irakische Chemiewaffen nicht wiederholt, daß die USA sich nicht aus der Schuldenkrise in ein militärisches Abenteuer flüchten? Andererseits wird Grass den Gefahren und Risiken, denen Israel ausgesetzt wird, nicht einmal ansatzweise gerecht.

Es ist eine hochkomplizierte politische, geopolitische und religiöse Gemengelage, die er anspricht und die kein Gedicht der Welt erfassen kann. Das Thema gehört in den Bundestag,  in den politischen Teil der großen Zeitungen, in die Verlagsprogramme. Doch Politik und Medien sind ein Totalausfall und legen Deutschland nur auf die Nibelungentreue zu Israel fest. Dafür steht die Aussage Angela Merkels, die Sicherheit Israels sei Teil der deutschen Staatsräson. Politisch bedeutet das einen Blankoscheck, staatsrechtlich eine Abtretung von außenpolitischer Souveränität. Denn ihre Sicherheitsstandards bestimmen die Israelis und niemand sonst!

Das Grass-Gedicht stößt also in ein diskursives Vakuum. Sein Autor hat die Sachlage auf der Gefühlsebene erfaßt und gründlich satt. Er repräsentiert die überwältigende Mehrheitsmeinung, die außerhalb des politisch-medialen Komplexes in Deutschland vorherrscht. Daher die maßlosen, hysterischen Reaktionen auf seine schlechte Lyrik.

Aber kommen wir zum Kern der Sache. Weder Grass noch seine Kritiker argumentieren politisch, sondern moralisch. Die Moral und Merkels „Staatsräson“ stützen sich auf eine Metaphysik, die um den Mord an den europäischen Juden herum errichtet worden ist. Diese konzentriert sich in der These aus Adornos „Negativer Dialektik“, mit Auschwitz sei den Menschen „ein neuer kategorischer Imperativ aufgezwungen“ worden. Eine Begründung ersparte er sich mit dem Einwand, diesen Imperativ „diskursiv zu behandeln, wäre Frevel“.

Der Intellektuelle wird damit zum Priester, und es bewahrheitet sich, was Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“ als Gefahr selber beschrieben hatte: Die Aufklärung wird ihrerseits zum Mythos, das Denken wird „blindlings pragmatisiert“, tautologisch, es verliert seinen aufhebenden Charakter und darum auch die Beziehung zur Wahrheit. Es bereitet den Boden „für Scharlatanerie und Aberglauben. Wie Prohibition seit je dem giftigeren Produkt Eingang verschaffte, arbeitete die Absperrung der theoretischen Einbildungskraft dem politischen Wahne vor“. Ja, die Bundesrepublik ist vom Wahn befallen, der sich in Blindheit und in stupiden, tautologischen Exerzitien entäußert: nun eben gegen Grass.

Diesen Kern des Problems hat Grass zwar nicht formuliert, aber unbewußt – als Dichter der naiven Art – berührt. Es geht gar nicht primär um Israel und den Iran, vielmehr um das kranke Nervenzentrum des eigenen Landes, um den Zwang der „belastenden Lüge“, deren Aufkündigung als Strafe „das Verdikt ‘Antisemitismus’“ nach sich zieht. Es ist possierlich, wie auf den Vorwurf, die Presse sei gleichgeschaltet, eine Schafsherde deutscher Journalisten sich wie ein Mann erhebt und mit einem ohrenbetäubenden Blöken das Gegenteil behauptet.

Auch Grass durchschaut die Zusammenhänge nicht, in denen er gefangen ist. Er hat eigenhändig an dem geistigen Gefängnis gebaut, gegen dessen Reglement er nun anrennt, und bleibt sein Insasse. Wenn er von „meinem Land“ schreibt und seinen „ureignen Verbrechen, / die ohne Vergleich sind“, repetiert er die adornitische Festlegung des absoluten beziehungsweise imperativen Verbrechens. Der Dichter verbleibt im Bannkreis der Verwirrungen, gegen deren Folgen er protestiert und die auf ihn zurückschlagen. Um innerhalb des schiefen Gedanken- beziehungsweise Moralgebäudes Israel kritisieren zu können, muß er ihm unterstellen, seinerseits ein absolutes Verbrechen zu planen: die Auslöschung des iranischen Volkes. Was, wie der stets besonnen-noble Diplomat und Publizist Avi Primor kommentierte, einfach „lächerlich“ ist.

Das Gedicht wird eingeleitet mit der Behauptung, daß „wir“, wenn die „Planspiele“ Wirklichkeit werden, „als Überlebende allenfalls Fußnoten sind“. Mit der Projektion protestiert Grass dagegen, daß die Deutschen, insbesondere die der eigenen Generation, als Konsequenz aus Adornos Metaphysik zum „Tätervolk“, zum geschichtlichen Müll also, erklärt werden. Die Tendenz hatte sich schon vor zehn Jahren im „Krebsgang“, seinem Buch über die Gustloff-Katastrophe, abgezeichnet.

Wer nun meint, hier arbeite jemand seine Schuldkomplexe auf, die er wegen seines Intermezzos als 17jähriger bei der Waffen-SS haben müsse, sollte sich einen Satz Martin Walsers vergegenwärtigen: „Aber solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird.“ Die Weisheit der Aussage wird eines Tages auch die Giftzwerge in den Medien einholen und das Fürchten lehren! Es sei denn, sie ziehen es vor, als Zombies dahinzufahren.

Substantiell ist die sogenannte Grass-Debatte eine weitere Runde im Totentanz des BRD-Diskurses. Gegen Ende von Goethes „Faust“ zitiert Mephisto die Bewohner der Unterwelt herauf: „Herbei, herbei! Herein, herein! / Ihr schlotternden Lemuren, / Aus Bändern, Sehnen und Gebein / Geflickte Halbnaturen.“ Sie helfen ihm noch beim Täuschen und Tricksen, etwas Vernünftiges zustande bringen können sie nicht.

 

Gleichschaltung, Einreiseverbot

Auf die zum Teil geharnischten Reaktionen auf Günter Grass’ Prosagedicht „Was gesagt werden muß“ (siehe Ausriß) antwortete der Autor in einem NDR-Interview larmoyant, es werde gegen ihn eine Kampagne geführt. „Es ist mir aufgefallen, daß in einem demokratischen Land, in dem Pressefreiheit herrscht, eine gewisse Gleichschaltung der Meinung im Vordergrund steht und eine Weigerung, auf den Inhalt, die Fragestellungen, die ich hier anführe, überhaupt einzugehen“, sagte Grass. Unterdessen hat Israels Innenminister Eli Jischai ein Einreiseverbot für Günter Grass verhängt. Außerdem müsse ihm eigentlich der Literaturnobelpreis aberkannt werden. Dafür sieht das Nobelpreiskomitee jedoch keinen Anlaß.

Foto: Günter Grass (84): Er hat eigenhändig an dem geistigen Gefängnis gebaut, gegen dessen Reglement er nun anrennt, und bleibt sein Insasse

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