© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/12 13. April 2012

Eine Option, die Angst macht
Vor neunzig Jahren schockierte der Vertrag von Rapallo zwischen dem Deutschen Reich und der kommunistischen UdSSR die Westmächte
Stefan Scheil

Die diplomatischen Vertreter der Westmächte hatten es eilig am frühen Morgen des 16. April 1922. Man rannte schnell in Richtung deutscher Delegation, denn es zeichnete sich am Rande der internationalen Konferenz im italienischen Küstenort Rapallo eine ebenso unerwartete wie spektakuläre Entwicklung ab: Es drohte ein deutsch-sowjetisches Abkommen. Tagelang hatte besonders der britische Premier jedes direkte Gespräch mit der deutschen Delegation verweigert, jetzt bot er es in letzter Stunde an. Deutschlands Außenminister Walther Rathenau wurde bei dieser Nachricht nachdenklich, aber er winkte letztlich ab. Es war zu spät. „Der Wein ist angerichtet, nun muß er auch getrunken werden“, so zitierte er ein französisches Sprichwort und schritt zur Unterzeichnung eines bis heute legendären Abkommens.

Vordergründig ging es zunächst einmal ums Geld, ein Thema, um das in Rapallo heftig gerungen wurde. Deutschland hatte den Ersten Weltkrieg verloren und sollte nun in unbegrenzter Höhe die Rechnungen zahlen, auf denen die Siegermächte saßen. „Kriegsschuld“ lautete das Argument. Formal hatte man vom Deutschen Reich im Versailler Vertrag 1919 ein Schuldgeständnis und einen Blankoscheck erpreßt. Seit drei Jahren wurde aber nun schon über Details verhandelt, Rapallo war nur eine weitere von zahlreichen Konferenzen zum Thema. Stetig luden französische und britische Diplomaten die ansonsten verhaßte bolschewistische UdSSR dazu ein, sich auf Basis des Versailler Vertrags an der Ausplünderung Deutschlands zu beteiligen – um auf diese Weise die Schulden des zaristischen Rußland bei den Westmächten bedienen zu können.

Allein, in Moskau wollte man davon nichts hören und veröffentlichte statt dessen genüßlich immer neue Dokumente aus den Beständen des Zarenreichs, aus denen die Kriegsschuld des Zaren und der Westmächte zweifelsfrei hervorging. Irgendwelche russischen Zahlungsverpflichtungen aus dieser Zeit wiesen die Bolschewiki als Ausdruck widerwärtiger imperialistischer Machenschaften zurück. Ein zusätzlicher Grund für diese Haltung lag in der weiteren Taktik. Der Weg zur Weltrevolution führte über Deutschland, und noch glaubte die Moskauer Führung zuversichtlich, ihn bald beschreiten zu können. Dazu mußte die UdSSR in Deutschland als Hoffnungsträger gelten, als potentieller Verbündeter, um sich gegen die Übermacht aus Westeuropa zur Wehr setzen zu können.

Diese sowjetische Haltung war ein schwerer Schlag für die Zahlungsfähigkeit der Westmächte Frankreich und England. Sie versuchten sie zuerst mit einer Intervention in den russischen Bürgerkrieg zu korrigieren, mit der in Moskau ein antisowjetisches, vor allem aber ein zahlungswilliges Regime etabliert werden sollte. Dieses Unternehmen scheiterte. Bald darauf mußten London und Paris sogar noch einen weiteren Rückschlag hinnehmen, denn statt sich bei „Versailles“ einzureihen, schlossen auch die USA im Sommer 1921 einen eigenen Friedensvertrag mit Deutschland. Von unbegrenzten deutschen Zahlungsverpflichtungen und Alleinschuld war darin nicht die Rede.

Damit war eine Konstellation entstanden, in der eigentlich eine grundsätzliche Wende im deutsch-britisch-französischen Verhältnis hätte eintreten können. Als weitere Drohkulisse zum Nachweis angeblicher Aggressivität des Deutschen Reiches taugte der Weimarer Staat kaum noch. Die deutsche Republik war klein genug geschnitten, um sie nicht weiter durch endlose Finanzforderungen und Besatzungsdrohungen mit Zerschlagung und endgültigem Ruin bedrohen zu müssen. Das mußte westliches Eigeninteresse eigentlich erkennen können, dennoch änderte sich wenig.

Aus deutscher Perspektive sah die Welt des Jahres 1922 daher alles andere als freundlich aus. Die Republik war teilweise besetzt, militärisch verteidigungsunfähig und noch dazu von Nachbarn wie den Republiken Polen und Frankreich umgeben, die nur notdürftig getarnt an der weiteren Zerschlagung Deutschlands und dem Erwerb von weiteren Teilen seines Staatsgebiets (Rheinland, Oberschlesien) arbeiteten. Die Zustände im Osten Europas ließen sich auch nur unter der Betäubung durch die Kriegsereignisse ertragen. „Wir haben in wenigen Jahren gelernt, Ereignisse kaum noch zu beachten, die vor dem Kriege die Welt hätten erstarren lassen. Wer denkt heute noch ernsthaft an die Millionen, die in Rußland zugrunde gehen,“ schrieb Oswald Spengler in diesem Jahr im „Untergang des Abendlands“. Das Publikum las es dennoch mit Schaudern, die Politik auch.

Trotzdem blieb ein deutsch-russischer Ausgleich immer eine Option der Berliner Politik. Sicher, russische Politik ließ in Rußland Millionen zugrunde gehen. Westliche Hungerpolitik hatte allerdings im Krieg und danach abseits des Schlachtfelds viele Hunderttausende in Deutschland zugrunde gehen lassen, hauptsächlich Kinder. Es bestand 1922 kein grundsätzlicher Anlaß, an der potentiellen Todfeindschaft der ehemaligen Kriegsgegner aus dem Westen zu zweifeln. Die Rückkehr zu einer Politik, die wenigstens eine Neutralität Rußlands sicherstellte, konnte dagegen an Bismarcksche Traditionen anknüpfen. Der alte Reichskanzler hatte einen französischen Angriff auf Deutschland für den Fall einer russischen Neutralität ausgeschlossen, für den Fall ihres Fehlens aber „ganz sicher“ erwartet.

Internationale Konstellationen neigen dazu, sich zu wiederholen, und sie tun dies in großem Maß unabhängig von Ideologiewechseln in den beteiligten Staaten. Ein deutsch-russischer Ausgleich war deshalb auch im Jahr 1922 attraktiv, obwohl die sowjetische Ideologie dagegen stand. In der Tat arbeitete man in Moskau weiter an der deutschen Revolution und startete dann auch trotz des Rapallo-Abkommens im nächsten Jahr 1923 einen Umsturzversuch in Deutschland.

Internationale Stabilität brachte das Rapallo-Abkommen also nicht. Die europäische Politik blieb ein Haifischbecken, inklusive Kriegsdrohungen, wirtschaftlicher Erpressung und revolutionärer Subversion. Immerhin vereinbarten die Weimarer Republik und die Sowjetunion 1922, auf gegenseitige Forderungen zu verzichten und volle diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Aus Sicht des Westens war dies ein alarmierendes Zeichen. Die Grenzen des politischen wie finanziellen Ausbeutungswerts des Versailler Vertrags wurden erstmals deutlich, besonders aber die Gefahren einer grundsätzlichen Umorientierung der deutschen Außenpolitik. Konnte eine dauerhafte deutsch-russische Zusammenarbeit hergestellt werden, dann würde der Westen östlich des Rheins kaum noch etwas zu sagen haben. Obwohl nun schon vor neunzig Jahren geschlossen, hat das Rapallo-Abkommen den Skandalgeruch dieser Option und ihrer Aktualität nie ganz verloren.

 

Vertrag von Rapallo

Artikel 1

Gegenseitiger Verzicht auf Ersatz von Kriegskosten beziehungsweise Kriegsschäden ebenso auf Erstattung für die Aufwendungen für Kriegsgefangene. Einvernehmlicher Austausch von im Krieg requirierten Handelsschiffen.

Artikel 2

Deutschland verzichtet auf Ansprüche, die sich durch die Enteignung der UdSSR gegen deutsche Reichsangehörige ergeben.

Artikel 3

Aufnahme diplomatischer und konsularischer Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik.

Artikel 4

Grundsatz der Meistbegünstigung bei der Rechtsstellung der Staatsangehörigen im jeweils anderen Staatsgebiet für allgemeine Handels- und Wirtschaftsbeziehungen.

Artikel 5

Auf internationaler Basis vorherige Absprachen „in wohlwollendem Geiste“ bei der Befriedigung wirtschaftlicher Bedürfnisse beider Staaten.

Artikel 6

Regelungen zum Inkrafttreten.

Foto: Rapallo: Reichskanzler Joseph Wirth (zweiter von links) mit der sowjetischen Delegation: Leonid Krassin, Georgi Tschitscherin und Adolf Joffe (weiter von links nach rechts)

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