© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/12 13. April 2012

Der Flaneur
Gebräuntes Gorbitz
Josef Gottfried

Dresden, Straßenbahnhaltestelle in Gorbitz, die fehlgeschlagene Waschbeton-Utopie des sozialistischen Städtebaus. Ich warte auf die Linie 2, überall liegen Kippenreste auf dem Boden.

Vor mir steht der Hintern einer 19jährigen, sie nimmt einen letzten Zug aus ihrer Zigarette, läßt sie fallen und tritt auf den Stummel, bis er nicht mehr qualmt. Zwei Sitze neben mir sitzt ein magerer, alter, gräulicher Typ. Er ist eigentlich nur eine Fußnote.

Ich schaue wieder auf die 19jährige, von unten nach oben: neue, bunte Turnschuhe, knallenge weiße Jeans und ein violettes Shirt, das ihre weiblich-feiste Figur betont. Das Teil sitzt so eng, daß ich Riemen und Verschluß ihres BHs in ihrem Fleisch ausmachen kann.

Die künstlichen Nägel sind aufwendig mit Mustern verziert, ihre schwarz gefärbten Haare haben eine lila Strähne, sie hat weder ihr Make-up noch ihre Frisur dem Zufall überlassen. Ihre Haut ist tief braun, im April, bei ihrer deutsch wirkenden Physiognomie wird sie wohl im Solarium gewesen sein.

Ein junger Mann nähert sich der Haltestelle, er ist vielleicht 25, ebenfalls deutsch und tiefbraun wie sie. Wie fast alle jungen, gesunden Menschen in Gorbitz. Die 19jährige kennt ihn wohl, denn sie lächelt ihm zu und stolziert in seine Richtung. Ich bin auch nur eine Fußnote.

Sein enges Oberteil betont die ausgeprägte Brustmuskulatur. Er geht breitbeinig, kaut Kaugummi und schaut finster drein. Mit der karottenförmigen Jeans, der Picaldi-Baseballjacke und den raspelkurzen, zum Scheitel gegelten Haaren sieht er bullig aus.

Um den Hals trägt er eine schwere Weißgoldkette. Seine bunten Turnschuhe sind blitzblank. Sie begrüßen sich mit einer flüchtigen Umarmung und beginnen, sich über gemeinsame Bekannte zu unterhalten. Sie ist ausgesprochen weiblich, er ist ausgesprochen männlich.

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