© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/12 20. April 2012

Revolution im Klassenzimmer
Zauberwort Inklusion: Bundesregierung sieht Förderschulsystem für behinderte Kinder als Sackgasse und propagiert den gemeinsamen Unterricht
Curd-Torsten Weick

Pflichtbewußt hatte Deutschland als einer der ersten Staaten der Welt am 30. März 2007 die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet. Ohne große Debatte und öffentliche Anteilnahme wurde sie dann im Dezember 2008 von Bundestag und Bundesrat verabschiedet. Die Ratifikationsurkunde wurde bei den Vereinten Nationen in New York hinterlegt. Seit dem 26. März 2009 ist die UN-Behindertenrechtskonvention, die unter dem bis dahin kaum beachteten politischen Begriff „Inklusion“ firmiert, für Deutschland verbindlich.

Zentraler Gedanke der Inklusion (lat.: inclusio = Einschluß) ist, behinderten Menschen das gleiche Recht auf Selbstbestimmung und Teilhabe zu gewähren wie Menschen ohne Behinderung. Ob im Arbeitsleben, im Bereich der Mobilität und Barrierefreiheit oder in der Schule – überall, so die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Ursula von der Leyen (CDU), wo sich das Leben abspielt, sollten die 9,6 Millionen Menschen mit Behinderung „selbstverständlich mittendrin und dabei“ sein. Stolz und etwas versteckt auf seiner Internetseite verweist das Sozialministerium in diesem Kontext auf den „Paradigmenwechsel: Weg von der Fürsorge – hin zur echten Teilhabe“ hin.

Gerade die Verpflichtung gegenüber der UN, ein inklusives Bildungssystem zu entwickeln, das das gemeinsame Lernen von behinderten und nichtbehinderten Kindern in allgemeinbildenden Schulen zur Regel macht, hat es in sich.

Paradigmenwechsel nennen es die einen, Revolution im Klassenzimmer die anderen. Fest steht, daß dem seit Jahrzehnten etablierten und international anerkannten System der Förderschulen mittelfristig das Aus droht. Dies sieht vor allem Ministerin von der Leyen so und kritisiert den bis dato eingeschlagenen Bildungsweg als Sackgasse: „Durch ein sehr ausgeklügeltes Netz von Sondereinrichtungen und Son­derprogrammen haben wir auseinandergebracht, was eigentlich zusammengehört.“

Unterstützung erhält die Ministerin von seiten der Inklusion propagierenden Bertelsmann-Stiftung, die erklärt, daß 75 Prozent der Förderschüler, die heute separat unterrichtet werden, keinen Hauptschulabschluß erreichen. „Der vermeintliche Schutzraum hat sich für viele als Isolationsfalle entpuppt“, resümiert dann auch Vorstandsmitglied Jörg Dräger und verweist ausdrücklich auf „Kinder von Zuwanderern, denen eine angebliche Sprachbehinderung attestiert“ wurde.

Doch viel ist in den letzten Jahren nicht geschehen. Während einige Bundesländer wie Hamburg in puncto inklusiver Bildung (siehe Grafik) eine Vorreiterrolle spielen, sind andere noch in der Planungsphase. „Nur“ knapp 20 Prozent aller Schüler mit Förderbedarf, so eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, besuchten 2010/11 eine Regelschule. Dabei geht es um eine halbe Million Förderschüler. Darunter 43 Prozent lernbehinderte (zum Großteil mit Migrationshintergrund), 16 Prozent geistig- und 6,5 Prozent körperbehinderte sowie 12 Prozent verhaltensauffällige Schüler.

Um mehr Bewegung in den Inklusionszug im Bereich Bildung zu bringen hat die Bundesregierung den bundesweiten „Jakob-Muth-Preis“ ins Leben gerufen. Er soll eine bessere Teilhabe ermöglichen – „unabhängig von Herkunft, Beeinträchtigung oder sonstiger Benachteiligung.“ Darüber hinaus plant die Bundesregierung eine Nationale Konferenz zur inklusiven Bildung.

„Die Länder sollten nachziehen“, erklärt von der Leyen und legt den Finger auf die Wunde. Denn obwohl sowohl Regierungs- als auch Oppositionsparteien im Bundestag die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention als ihr „besonderes Anliegen“ betrachten, gibt es vielerorts politischen Streit.

So vermissen die hessischen Grünen den „klaren politischen Willen zur Umsetzung der Inklusion“ in der Landesregierung und erklären: „Seit drei Jahren ist Hessen verpflichtet, die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Aber bis heute fehlt aus dem Kultusministerium alles, was zu einem Gelingen des gemeinsamen Unterrichts von behinderten und nichtbehinderten Kindern beitragen würde.“ Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW Hessen) sekundiert: „Inklusion ist ein Menschenrecht, das allen Kindern in Hessen zusteht.“

Dagegen sieht Hessens Kultusministerin Dorothea Henzler die Inklusion in Hessen auf einem guten Weg. Dies, so die FDP-Politikerin, werde nicht nur dadurch belegt, daß 95,6 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Hessen die Regelschule besuchen. Daß es in Hessen zudem vergleichsweise wenige Kinder mit festgestelltem sonderpädagogischen Förderbedarf gebe, unterstreiche die gute Situation in Hessen. Über 900 Förderschullehrerstellen stünden für Kinder mit Schwierigkeiten im Lernprozeß zur Verfügung, auch ohne Feststellungsverfahren. Sie seien ab dem ersten Schultag dafür da, die Kinder und ihre Lehrer in den Bereichen Lernen und Erziehen zu unterstützen.

„Damit handeln wir in Hessen seit langem im Geist einer inklusiven Schulkultur“, erklärt Henzler und unterstreicht – unter dem Hinweis, daß 80 Prozent der Kinder in hessischen Förderschulen einen Schulabschluß erreichen –, daß es bei Kindern mit festgestelltem sonderpädagogischen Förderbedarf immer auch Schüler geben wird, bei denen eine spezialisierte Förderschule besser auf die individuellen Bedürfnisse eingehen kann.

Auch in Bayern drückt die SPD aufs Gaspedal und fordert, inklusiven Unterricht an allen allgemeinen Schulen bis zum Jahr 2020 möglich zu machen. Dagegen tritt Bayerns Kultusminister Ludwig Spaenle auf die Bremse. Die Schulen bräuchten „Zeit und Ruhe“ für die schrittweise Umsetzung der Inklusion, erklärte der CSU-Politiker und erinnert an zusätzliches Personal und  Nachtragshaushalt.

Streit um mehr finanzielle Mittel und zusätzliche Lehrerstellen gibt es auch in Hamburg, doch sorgen hier, einem Bericht der Welt entsprechend, gerade die Anmeldezahlen an den Stadtteilschulen für Diskussion. Immer mehr Eltern entscheiden sich demnach für den integrativen Schulbesuch. Folge: In einigen Schulen hat, aktuellen Erhebungen zufolge, bereits jedes dritte neu angemeldete Kind einen besonderen pädagogischen Bedarf. Ein Großteil davon im Bereich Lernen, Soziale und Emotionale Entwicklung (LSE). Das Ende aller Visionen?

All die Ungereimtheiten bei der Umsetzung und all die Unwägbarkeiten bei der Finanzierung hindern die Bundesregierung jedoch nicht daran, ihren Fahrplan zu ändern. Geht es doch darum, die Inklusion ins „Bewußtsein zu bringen“ und in zehn Jahren vollendet zu haben. Ein millionenschwerer nationaler Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Konvention ist aufgelegt, die Kampagne „Behindern ist heilbar“ gestartet.

Stolz verweist das Bundesministerium für Arbeit und Soziales auf eine repräsentative Allensbach-Umfrage zum Thema Inklusion. Danach begrüßt eine überwältigende Mehrheit von 86  Prozent  der Befragten einen Nationalen Aktionsplan. Wichtigstes Handlungsfeld ist der Ausbau der Barrierefreiheit im öffent­lichen Raum und bei Verkehrsmitteln (78 Prozent), in Kultureinrichtungen (68  Prozent) sowie in Ge­schäften und Restaurants (63 Prozent). Hohe Bedeutung hat für die Befragten zudem die Gleichberechtigung am Arbeits­platz (68 Prozent) – der gemeinsame Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern wird dagegen nur von 52 Prozent begrüßt.

Foto: Inklusiver Unterricht an der St.-Konrad-Schule in Neuss: „Weg von der Fürsorge – hin zur echten Teilhabe“

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