© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/12 20. April 2012

Grenze zur verbotenen Zone
Deutschlands Interessen: Kritik an Israel ist hierzulande ein heikles Thema / Nachtrag zur Grass-Debatte
Thorsten Hinz

Die Diskussion um Günter Grass mündet wieder einmal in die Frage ein, ob Israel von Deutschen kritisiert werden darf. Die Frage führt weg vom Bereich des Politischen in die Gefilde subjektiver, sentimentaler Befindlichkeiten. Daher muß man sie in einer größeren, allgemeineren Frage aufgehen lassen: Ist Deutschland gegenüber Israel – und auch sonst – überhaupt in der Lage, seine außenpolitischen Interessen selber zu definieren? Oder läßt es sich von anderen vorschreiben, wer sein Feind und wer sein Freund ist, gegen wen es kämpfen darf oder nicht? Wenn es seine Interessen selber definiert, dann schließt das auch das Recht ein, Kritik an Israel zu üben. Falls das nicht der Fall ist, hat sich die Frage erübrigt.

Im Spätsommer 2011 entdeckten die sogenannten libyschen Rebellen in Gaddafis Waffenkammern deutsche Sturmgewehre. Daraufhin gab es einen großen Aufschrei in Deutschland: Was für eine flagrante Verletzung der Waffenexport-bestimmungen! Am Ende stellte sich heraus, daß die Ägypter aus einer legalen Lieferung etwas für den wilden Nachbarn abgezweigt hatten. Nur deshalb kam die Öffentlichkeit um einen Untersuchungsausschuß des Bundestages und weiteren Medienaufruhr herum.

Die Kontrastveranstaltung dazu: Ende 2011 hat die Bundesregierung zugestimmt, das mittlerweile sechste U-Boot an Israel zu liefern, das atomar bestückt werden kann. Ein Drittel der Kosten, heißt es, übernimmt Deutschland. Auf welche Weise das bankrotte Israel die restlichen zwei Drittel erstatten will, wurde nicht mitgeteilt. Die Meldungen waren in den Seitenspalten der Zeitungen versteckt. Nachfragen oder Kommentare, was Israel mit den U-Booten anfängt und ob das den deutschen Interessen nutzt oder sie beschädigt, gab es nicht.

Der politische und mediale Aufwand, der erstens um die Atom-U-Boote, zweitens um die Sturmgewehre betrieben wurde, war klar disproportional und verweist auf doppelte Maßstäbe, von denen der proisraelische nie in seinen Konsequenzen benannt wird. Die Frage, ob Kritik an Israel möglich ist, erscheint da als Nebelkerze, als Versuch einer Diskurssimulation. Auch die wenigen Außenseiter im Bundestag, die in der Euro-Frage von Zeit zu Zeit die Alarmglocke betätigen, wagen nicht, die Nebel zu lichten.

Mahnend steht allen das Schicksal des FDP-Politikers Jürgen Möllemann vor Augen, der 2003 in hoffnungsloser Lage den Freitod wählte. Möllemann hatte den damaligen israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon wegen der Besatzungspolitik in den Palästinensergebieten kritisiert (die seither nicht besser geworden ist) und Michel Friedman, der ihn namens des Zentralrats der Juden in Deutschland des  Antisemitismus beschuldigte, wegen dessen „intoleranter und gehässiger Art“ attackiert: „Das geht so nicht, man muß in Deutschland Kritik an der Politik Scharons üben dürfen, ohne in diese Ecke geschoben zu werden“, glaubte Möllemann.

Er war weiß Gott kein Sympathieträger, aber es war beängstigend zu erleben, wie umgehend eine Kampagne einsetzte und ein Politiker, der eben noch für höchste Staatsämter in Frage kam, binnen Monaten zum Paria wurde und schließlich, den gesellschaftlichen Tod vor Augen, den Selbstmord seiner sozialen Eliminierung vorzog. Die Affäre ist kriminaltechnisch, nicht aber politisch und moralisch aufgearbeitet.

Das Verfahren ist so einfach wie brutal: Sachliche Kritik wird durch Sprachspiele in Belege für Antisemitismus verwandelt. Linke Kritiker können auf eine gnädigere Behandlung hoffen als Rechte. Denn der (angebliche) linke Antisemitismus bezieht sich auf Karl Marx, der (angebliche) rechte (angeblich) auf Adolf Hitler. Der zweite Grund: Der Rechte neigt aus Prinzip dazu, das nationale Eigeninteresse zu betonen. Der Linke ist universalistisch eingestellt und daher grundsätzlich bereit, das deutsche einem vermeintlich höheren Interesse unterzuordnen. Er ist also therapierbar.

Präventiv wird hinzugefügt: Die Kritik müsse konstruktiv (im Kanzlerinnen-Deutsch: hilfreich) sein: Ein Argument, das man aus Diktaturen kennt. Jede Kritik von Schriftstellern sei möglich, verkündete Erich Honecker, und zwar, wenn der Kritiker fest auf dem Standpunkt des Sozialismus stehe. Das hieß, er mußte innerhalb der ideologischen Leitplanken verbleiben, die die Partei aufgestellt hatte. Wenn er sie überstieg, betrieb er die Geschäfte des Klassenfeindes, wie er heute die der Antisemiten betreibt. Wobei die Grenze zur verbotenen Zone von Israel, vom Zentralrat der Juden oder von Politikern und Medien gezogen werden, die ihre Interessendefinition verinnerlicht haben.

Aufschlußreich in diesem Zusammenhang ist ein Text, den Wolfgang Ischinger unter der Überschrift „Deutschland, Israel und die iranische Bombe“ vor sechs Wochen in der FAZ veröffentlicht hat. Ischinger ist Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz und einer der klügsten außen- und sicherheitspolitischen Köpfe. Er warnt vor einer Präventivaktion Israels gegen den Iran, doch wenn Israel sich dazu entschließen sollte, könne die deutsche Politik nicht mehr hinter den Merkel-Satz zurück, die Sicherheit Israels sei Teil der deutschen Staatsräson!

Die Parallelen zur Katastrophenpolitik von 1914 dürften Ischinger klar sein. Um die eigene Peinlichkeit mit einem anderen zu teilen, zitiert er im Folgenden einen Friedensforscher (!) mit den Worten, im Falle eines israelischen Militärschlags dürfe der Westen „nicht Israel die Schuld zuschieben. Ahmadinedschad und die Extremisten, die ihn umgeben, fordern die Tragödie heraus“.

Der letzte Satz ist reine Behauptung und zugleich Bemäntelung. Es ergibt sich der beklemmende Eindruck, Deutschland bliebe in der Frage über Krieg und Frieden nur der resignative Nachvollzug israelischer Entscheidungen. Ist das die vielbeschworene Lehre aus der Geschichte?

Zuletzt und keineswegs nebenbei: Natürlich ist die Souveränität eines Landes über seine Außenpolitik immer nur eine relative und sind geschichtliche Erfahrungen und Katastrophen von politischem Gewicht. Doch sie müssen politisch und nicht sentimental gewichtet werden. Bringt die Diskussion um Grass uns dieser Einsicht endlich näher?

Foto: Gedenkstätte Yad Vashem, Halle der Erinnerung, in Jerusalem: Israels Existenzrecht ist laut Merkel Deutschlands Staatsräson

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