© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/12 20. April 2012

Aus dem Herzen der russischen Seele
Freie Malweise mit helleren Farben: In Chemnitz wird die Ausstellung der Künstlergruppe „Die Peredwischniki“ präsentiert
Paul Leonhard

Aufgeben? Kapitulieren? Sich freiwillig den Türken ergeben? Für die Saporoscher Kosaken war die 1675 ergangene Forderung Sultan Mehmeds IV. eine Zumutung. Deswegen schreiben sie einen Brief zurück, der vor Beleidigungen nur so strotzte. Der russische Maler Ilja Repin hat die Szene 200 Jahre später in einem monumentalen Ölgemälde, 2,03 mal 3,58 Meter groß, dargestellt: Anderthalb Dutzend skurrile Gestalten haben sich um einen Tisch versammelt. Grölend halten sie ihre Bäuche über dem Schmäh, den sie gerade dem grinsenden Schreiber diktieren. Die Männer halten die Waffen griffbereit, einer trägt einen blutigen Kopfverband, aber auch ein Musikinstrument und Spielkarten sind zu sehen.

Elf Jahre hat Repin an diesem Bild gearbeitet, in dem er der Lebenslust und der Freiheitsliebe der Kosaken ein Denkmal setzt. Genauso stark in seiner Wirkung ist das zwischen 1870 und 1873 entstandene Gemälde „Die Wolgatreidler“. Zerlumpte Gestalten ziehen ein Schiff flußaufwärts. Einige der Männer sind abgestumpft, andere schauen sich noch beobachtend um. Ein bärtiger Wuschelkopf scheint seinem Nachbarn gerade eine Zote zu erzählen. Nur ein Junge, in der Mitte des Zuges, ist noch nicht im Trott dieser Arbeit gefangen. Ihn drückt noch der Zuggurt. Er richtet sich auf.

Die Wolgatreidler sind keine Leibeigenen mehr, sie sind freie, stolze Männer mit einem schweren Beruf, der aber schon dem Untergang geweiht ist. Denn am Horizont des Bildes sieht man die Rauchfahne eine Dampfers. Beide Bilder waren in der DDR übrigens Bestandteil des Schulunterrichtes (mit zum Teil gewagten Interpretationen).

Die Künstlergruppe „Die Peredwischniki“ selbst, zu deren herausragendsten Vertretern Ilja Repin (1844–1930) zählt, war dagegen bisher auch in den neuen Bundesländern weniger bekannt. Deswegen ist es um so bewundernswerter, daß es Ingrid Mössinger, der Generaldirektorin der Kunstsammlungen Chemnitz, gelungen ist, diese von russischen, schwedischen und britischen Wissenschaftlern für die Nationalgalerie Stockholm konzipierte Ausstellung im Anschluß für einige Wochen nach Sachsen zu holen.

Die Peredwischniki sind eine in ihrer Wirkungsgeschichte bedeutende russische Sezessionsbewegung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es war die russische Variante eines in ganz Europa zu spürenden Aufbruchs in der Kunst. Bereits 1863 hatten sich Studenten in Sankt Petersburg in Auflehnung gegen die kaiserliche Akademie zum Petersburger Künstler-Artel zusammengeschlossen. An diese Genossenschaft wandte sich im November 1869 eine Moskauer Malergruppe um Iwan Kramskoi, die ebenfalls aus dem Dogma der Hochschule für Malerei, Bildhauerei und Architektur in Moskau ausbrechen wollte.

Man wollte nur noch dem eigenen künstlerischen Ziel verpflichtet sein, das gesellschaftliche Leben in Rußland und die Schönheiten der Heimat realistisch darstellen und die Werke einem breiten Publikum vorstellen können. Die Mittel dazu waren Realismus und Freilichtmalerei. Künstlerische Freiheit und Autonomie schrieb sich die 1870 in Sankt Petersburg gegründete Gesellschaft zur Veranstaltung von Wanderausstellungen (Peredwischniki) auf die Fahnen. Von Anfang an gehörten ihr unter anderem Iwan Kramskoi, Grigori Mjassojedow, Nikolai Ge und Wassili Perow an. Schnell war sie eine Heimstatt für die talentiertesten Maler Rußlands.

Ihre erste gemeinsame Ausstellung wurde am 11. Dezember 1871 in Sankt Petersburg eröffnet. Zu sehen waren Landschaften von Iwan Schischkin, Porträts von Iwan Kramskoi, der „Rastende Jäger“ von Wassili Perow und „Peter I. verhört seinen Sohn Alexej“ von Nikolai Ge. Es folgten 46 weitere Wanderausstellungen in Moskau, Kiew, Odessa, Charkow, Kasan, Riga und anderen Städten des Zarenreiches, die große Aufmerksamkeit beim erstarkenden Bürgertum fanden. Mäzene wie beispielsweise Pawel Tretjakow begannen die Werke zu sammeln, aber auch von der Zarenfamilie, Großfürsten und dem Bürgertum wurden Bilder gekauft. Die Peredwischniki wurden rasch eine treibende Kraft in der russischen Kunst, und ihre Werke erfreuen sich bis heute in Rußland einer großen Beliebtheit.

Die Chemnitzer Ausstellung zeigt hauptsächlich Werke, die zwischen 1870 und 1910 entstanden sind. In dieser Zeit war der Einfluß der „Wandermaler“ auf die russische Kunst am größten. Deutlich ist die Vielfalt der neuen künstlerischen Handschriften zu erkennen, aber auch warum diese Bilder Wiederhall in der russischen Seele fanden. Die Landschaftsgemälde symbolisieren Heimatgefühl und Nationalbewußtsein. Mythologische und folkloristische Themen werden angesprochen. Im Gegensatz zur traditionellen dunklen Farbpalette dieser Zeit, wählten die Künstler eine freiere Malweise mit helleren Farben. Ein unübertroffenes Vermächtnis der Peredwischniki sind die zahlreichen Porträts, auf denen sie die kulturelle und intellektuelle Elite Rußlands ihrer Zeit festhielten. Eines der berühmtesten Beispiele, auch in der Chemnitzer Schau zu sehen, ist das 1901 entstandene Gemälde, auf dem Ilja Repin einen barfüßigen Dichterfürsten Lew Tolstoi dargestellt hat, im Bauernkittel und mit langem weißen Bart.

1923 fand die letzte Ausstellung statt. Die Künstlergruppe löste sich in den Wirren des Bürgerkrieges auf. Einige ihrer Mitglieder fühlten sich der sozialistischen Revolution verpflichtet und entwickelten sich zu Vertretern des sozialistischen Realismus in der Malerei.

Bis zum 28. Mai sind die Meisterwerke der Peredwischniki noch zu sehen, dann kehren sie in die Bestände der Staatlichen Tretjakow-Galerie in Moskau und des Staatlichen Museums Sankt Petersburg zurück. „Eine ganze Nationalauswahl russischer Zentralikonen befinde sich zur Zeit in Deutschland“, schwärmt die FAZ (unter Einbeziehung von Alexander Deinekas Werken in der Kunsthalle Hamburg): „Man sollte sich das also dringend anschauen, das kommt so schnell nicht wieder.“

Die Ausstellung „Die Peredwischniki. Maler des russischen Realismus“ ist bis zum 28. Mai in den Kunstsammlungen Chemnitz, Theaterplatz 1, täglich außer montags von 11 bis 18 Uhr zu sehen. Der Eintritt kostet 8 Euro (ermäßigt 5 Euro). Telefon: 03 71 / 4 88 44 24

Der Katalog mit 304 Seiten und 150 Farbabbildungen kostet 30 Euro. www.kunstsammlungen-chemnitz.de

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