© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/12 20. April 2012

Der Flaneur
Akademisches Geschlecht
Josef Gottfried

Sie steht ein paar Meter vor mir, ich sitze an einem der Arbeitsplätze im Lesesaal der Universitätsbibliothek. Ich schaue zu ihr hoch, zu der Hübschen, wie sie sich angeregt mit ihrem Kommilitonen unterhält, den ich nur von hinten sehen kann. Sie nickt viel und lächelt, das Gespräch scheint nicht sehr kontrovers, aber doch nett zu sein.

Sie trägt eine schwarze, blickdichte Strumpfhose, darüber einen langen, schicken Pullover als Kleidchen, so daß es gut zu ihren scheinbar gedankenlos hochgesteckten Haaren und dieser Hornbrille paßt. „Hipster“ tragen solche Brillen, wenn sie nämlich mit dem Image des Nerds oder der grauen Maus kokettieren. Hallo, Keinohrhasen!

Überhaupt: Sie könnte in einer Til-Schweiger-Produktion mitspielen, so hübsch ist sie. Ihr Pullover deutet an, daß sie sportlich ist. Die Armreifen an ihrem zierlichen Handgelenk gleiten zur Ellenbeuge, sobald sie sich eine Strähne hinters Ohr schiebt. Wenn sie ihr Handgelenk wieder auf Hüfthöhe bringt, gleitet der Schmuck zurück.

Ich bemerke, daß sie meinen Blick bemerkt, weil sie, immer noch ihrem Gegenüber freundlich zunickend, aus dem Augenwinkel zu mir herüberschaut und darüber etwas ernsthafter, distanzierter wird. Also weiche ich aus, um einige Sekunden später ihren Gesprächspartner anzuschauen.

Er ist schmal, Läufertyp, weiter Pulli, seine locker sitzende Jeans ist abgetragen, an den Füßen trägt er löchrig gewordene Turnschuhe aus Leinen mit Gummisohle – Converse All Stars. Er hat die Hände in den Taschen, auch er erzählt und nickt. Genau wie sie, nur daß sein Kopf manchmal eine ruckartige Bewegung nach links macht, weil er damit seine langen, aschblonden Haare aus dem Gesicht holen möchte. Beiden ist klar, daß sie Mann und Frau sind. Es wird nicht versteckt, aber betont wird es auch nicht.

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