© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/12 27. April 2012

Über den Staat und das Vaterland
„Selbst etwas sein“
von Axel Springer

Ich komme zu Ihnen von meinem Haus an der Mauer in Berlin, jener Stadt, die heute stellvertretend für ein friedvolles Deutschland im Herzen Europas steht. Ich glaube überdies, daß wir aufgerufen sind und daß es eine der Wiedergutmachungsaufgaben ist, unser in die Mitte des Kontinents gestelltes Deutschland zu einem Stabilisierungsfaktor eines freiheitlichen Europas zu machen. Das aber kann man ohne Berlin nicht tun und nicht wollen.

In Berlin fühle ich überdeutlich: Es ist unsere Pflicht, die Idee des ungeteilten deutschen Vaterlands in unserem Herzen zu bewahren. Es ist unsere Pflicht, niemals den opportunistischen Erwägungen des sozialistischen Zeitgeistes nachzugeben, dessen schlimmes Produkt nur ein Volksfront-Europa sein könnte.

Und wenn ich fortfahre: Man darf nicht auf Mecklenburg und auch nicht auf Schlesien verzichten, nicht auf Pommern und nicht auf Ostpreußen, dann verstehen das viele. Andere jedoch nicht. Lassen Sie mich verdeutlichen, was ich meine:

Dieses Nichtverzichtenwollen ist nicht die Maxime eines der Restauration verhafteten Reaktionärs. Ich bin kein Revanchist. Ich bin auch kein Nationalist. Ich bin ein Deutscher, der einfach für alle Deutschen, auch in Weimar, Königsberg und Danzig Freiheit, Freizügigkeit durch Frieden will. Ganz simpel nicht nur für uns hier im freien Westen, sondern für alle Deutschen.

Das ist das Anliegen. Es geht nicht in erster Linie um Grenzen und Gebietshoheiten. Es stört ja auch die bayerisch-hessische oder die bayerisch-österreichische Grenze nicht, noch nicht einmal die französisch-deutsche – solange sie nur Demarkationslinie von Verwaltungsregionen auf gleicher moralischer Lebensbasis ist und keine Barriere, kein Schlagbaum der Gewalt, der Unfreiheit, der Unmenschlichkeit.

Es war einer meiner schwärzesten Tage, als die Ostverträge unterzeichnet wurden. Im Rausch des Sieges haben die Alliierten 1945 nicht die Grenzen festgelegt, sondern Demarkationslinien. Das bedeutete, daß in Verhandlungen um einen Friedensvertrag Terrain und Zugeständnisse hätten gewonnen werden können. Aber an irgendeinem schönen Mittwochmorgen ist alles weggegeben worden. Ohne jede Gegenleistung. Und der Friede wurde auch nicht sicherer gemacht. Man braucht keinen Hausmakler zu fragen, was die Quadratkilometer in Geld bedeuten. Was uns alle viel mehr bedrücken sollte, ist, daß wir die Menschen, unsere Mitmenschen, aus der Betreuung entließen und sie der Unfreiheit und der Hoffnungslosigkeit preisgaben.

Man braucht mich wirklich nicht darauf aufmerksam zu machen, daß letzten Endes alles durch Hitlers Gewaltakte und seinen wahnwitzigen Eroberungskrieg entstanden ist. Aber man kann nicht Hitlers Gewaltpolitik verdammen und die Gewaltpolitik der Sowjets heute segnen. Man kann nicht die braune Unfreiheit hassen und bekämpfen, die rote aber herbeireden und lieben oder verharmlosen. Unrechtssystem bleibt Unrechtssystem, gleichgültig unter welchen Farben.

Das ist die eine Seite der Medaille.Die andere ist, daß es in der Epoche großräumiger Integrationen nicht mehr um die Restaurierung der politischen Landschaft des 19. Jahrhunderts geht. Geschichtliche Räume können nicht mehr primär durch traditionelle Machtansprüche bewahrt oder wiederhergestellt werden. In der Epoche der großen ideologisch begründeten Umorientierung und der Endphase des sowjetischen Eroberungskrieges können diese Räume nur durch das Auffüllen mit den Prinzipien der Freiheit lebensfähig und verteidigungsbereit gemacht werden.

Der auf Unfreiheit begründete proletarische Internationalismus fordert als Gegengewicht den auf Freiheit basierenden Großraum, fordert die westliche Integration auf der Grundlage von Freiheit, Freizügigkeit, organischer Ordnung, Sicherheit und Menschenwürde. Nicht verbrieftes Besitzrecht aus zurückliegenden Zeiträumen garantiert und legitimiert den Zusammenhalt. Das Ideal und die Wirklichkeit der Freiheit ist es, die mit ihrer schöpferischen Kraft in Zukunft Räume zusammenbringen und zusammenhalten kann und muß. (…)

Freiheit – das schönste Wort der Welt, aber auch das am meisten mißbrauchte. Jeder Unterdrücker der Geschichte führte es auf denLippen. Anarchisten bomben im Namen der Freiheit. Die roten Fahnen der menschenverachtenden Kommunisten flattern um das Transparent Freiheit: Freiheit für Terroristen, Freiheit für Radikale, Freiheit für Umsturz, Freiheit für hemmungslosen Sex, Freiheit für Abtreibung, Freiheit für jede Unappetitlichkeit.

Das Unglück der modernen Zeit begann, als die Französische Revolution dem Ideal der Freiheit das der Gleichheit, im Sinne von totaler Egalité, zur Seite stellte und die Sozialisten aller Schattierungen diesen Generalirrtum übernommen haben. Nicht mehr jedem das Seine, sondern jedem das Gleiche.

Aber Freiheit und Gleichheit können nicht gleichwertig zusammenstehen. Natürlich muß es Gleichheit vor dem Gesetz geben, wie es sie vor Gott gibt. Aber die Theorie von der Gleichheit aller Menschen ist das Todesurteil für echte Freiheit.

Will jemand ernsthaft behaupten, in den von Einheitsparteien regierten Kollektivstaaten sozialistischer Prägung herrsche Freiheit? Wo Gleichheit als Gesinnungsgleichheit verstanden wird, wo für Andersdenkende kein Platz ist, da ist es mit der Freiheit zu Ende. (…) Der auf Freiheit und Recht ruhende Staat muß im Interesse des Glücks der Menschen verhindern, daß die natürliche Ungleichheit zerstört wird. Denn die Menschen sind nun einmal nicht gleich.Leibniz ließ einst die Hofgesellschaft im Schloßpark von Charlottenburg Blätter sammeln und forderte, man möge ihm zwei zeigen, die gleich seien. Niemand konnte es.

Wer aber hätte das Problem besser in Sprache gefaßt als Martin Luther, wenn er sagte: „Man muß Christi Reich von der Welt Reich unterscheiden können. Es ist für die Christen ein tröstliches Evangelium, daß wir in Christus so ganz gleich sind. Vor der Welt muß die Ungleichheit bleiben, daß der Vater mehr sei als der Sohn, der Lehrer mehr als der Schüler. Wer da eine Gleichheit machen wollte, der würde ein schönes Regiment anrichten.“

Wer wissen will, wohin dieses Regiment führt, der braucht nicht weit zu schauen. Ein Blick über den deutschen Zaun und die Mauer genügt. Jeder kann hinüberblicken; keiner hat die Entschuldigung, er habe nichts gewußt. Jeder kann täglich erfahren: Die sogenannte „DDR“ ist ein Unrechtsstaat par excellence. Diese Tatsache muß am Beginn jeder Betrachtung über die Teilung Deutschlands stehen. Und das Unrecht beginnt bei dem entscheidenden Punkt: bei der Freiheit.

Wenn es sonst nichts, gar nichts weiter an dieser sogenannten „Deutschen Demokratischen Republik“ auszusetzen gäbe, der schamlose Umgang mit der Freiheit von politisch mißliebigen Bürgern und Bürgerinnen, der Burgverlies-Terror der Strafjustiz dieses Regimes allein müßte genügen, die ganze Welt zu einem Aufschrei zu bringen. Aber sie schreit nicht. Sie schweigt.

Man marschiert für die Freiheit der Chilenen, der Schwarzen in Rhodesien oder Südafrika. Man demonstriert dafür, daß Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland Richter, Lehrer, Verwaltungsbeamte und Staatsanwälte werden dürfen.

Aber für unsere Nächsten im politischen Sinn des biblischen Begriffs, die da drüben aus politischen Gründen oder einfach als getarnte Geiseln für bei uns gefaßte kommunistische Spitzenagenten hinter Schloß und Riegel sitzen, marschiert man nicht. (…)

Wir gehen – wie die moderne Soziologie richtig interpretiert – bei unseren Klagen über den Verfall der moralischen Werte üblicherweise davon aus, daß wir

a) an die breite Masse appellieren müßten und daß

b) tatsächlich sich jeder einzelne Bürger bei etwas gutem Willen besser, wirksamer, eben moralischer verhalten könnte. So einfach aber ist die Sache nicht: Denn moralisches Verhalten ist keine Individualleistung, sondern muß durch die führenden Menschen eines Volkes gefordert werden.

Das heißt: Die moralische Aufrüstung der einzelnen, ihr Bekenntnis zu den tragenden Werten des Volkes und des Staates, ihre Verteidigungsbereitschaft gegen den Angriff der politischen Unmoral, des politisch Satanischen, muß motiviert, inspiriert, ja vorgelebt werden von den führenden Bürgern in Politik und Wirtschaft, von den „Sozialgestaltern“, wie die Soziologen sagen. So ist es immer gewesen – wenn es die Legenden der Geschichtsbücher oft auch anders darstellen.

Die preußischen Freiheitskriege waren nicht ein vom Himmel oder aus dem Strom der Zeit gekommener Aufbruch des Volkes, die wie ein Sturmwetter gewachsene Levée en masse. Die Bereitschaft zu Opfer und Kampf, zu Dienst und Widerstand war von ein paar Reformern und Gläubigen aus den führenden Schichten in Gang gesetzt worden. So war es immer! Und wenn das nicht geschieht, dann geschieht eben nichts! Auch bei uns. Dann bleibt es dabei, daß die Nation sich nur noch auf dem Fußballplatz artikuliert.

Wir, die „Sozialgestalter“, um noch einmal soziologisch abstrakt zu reden, müssen die Fackel von Freiheit und Recht, Dienstbereitschaft und Pflichtbewußtsein, Wahrhaftigkeit, Humanität und Vaterlandsliebe ergreifen. Und müssen sie vorantragen. (…)

Mich bestärkt das in der Überzeugung, daß es kein Vaterland ohne Gott gibt. Das gilt auch für Deutschland — und für seine gesamte Politik.

Viele solcher individueller Vaterländer können sich dann zusammenfinden zu den Großräumen der Freiheit, von denen ich vorhin sprach. So habe ich auch den oft mißverstandenen Ausspruch de Gaulles vom Europa der Vaterländer immer in dem Sinn verstanden, daß ein Wald nicht einfach Wald sein kann, sondern aus Buchen, Fichten, Eichen, Tannen und den verschiedensten Büschen besteht. Man muß selbst etwas sein, um in der höheren Gemeinschaft, der größeren Föderation, etwas sein zu können.

 

Axel Cäsar Springer (1912–1985), deutscher Zeitungsverleger, war vor dem Zweiten Weltkrieg stellvertretender Chefredakteur der Hamburger Neuesten Zeitung und begründete danach ein Medienimperium, die heutige Axel Springer AG.

 

Rede zur Verleihung der Jakob-Fugger-Medaille 1976

Tiefe Einblicke in seinen Zorn über die gesellschaftlichen Zustände in Westdeutschland gab Axel Springer am 19. Juni 1976 anläßlich der Verleihung der Jakob-Fugger-Medaille im alten Residenztheater in München. Der Verleger, der am 2. Mai dieses Jahres 100 Jahre alt geworden wäre, stellte seine Rede unter das Thema „Über den Staat und das Vaterland“. Er formulierte darin sein politisches Weltbild, das von leidenschaftlicher Vaterlandsliebe, Antikommunismus und Verachtung für den schon damals links geprägten Mainstream geprägt war. Massiv attackierte Springer die Mitte der Gesellschaft, die sich durch Schweigen mit dem „roten Lager“ gemein mache. Weder die Axel Springer AG noch eine ihrer Zeitungen stellen diese bemerkenswerte Rede für eine Online-Recherche im Internet zur Verfügung. Zu sehr widersprechen wohl Tonlage und Weltbild der heutigen Auffassung des Unternehmens. Dem Zeitgeist folgend wird der Unternehmensgründer Axel Springer von seinen Nachfolgern offiziell als „Radikaler der Mitte“ dargestellt. Wer jedoch die hier abgedruckten Auszüge liest, dürfte an dieser Interpretation seine Zweifel haben. (rb)

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