© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/12 04. Mai 2012

Pankraz,
Fritz Breithaupt und die faulen Ausreden

Unzulässige Ausweitung eines Begriffs. Fritz Breithaupt (45), durch einige Arbeiten über Goethes Wahrnehmungsstil auffällig geworden, behauptet in einem jetzt erschienenen Buch („Kultur der Ausrede“, Suhrkamp-Taschenbuch, Berlin 2012, broschiert, 235 Seiten, 12 Euro), daß unser ganzes menschliches Erzählen eine einzige Ausrede sei, ein ewiges rhetorisches Den-Kopf-aus-der-Schlinge-ziehen-Wollen. Begründet wird die Behauptung nicht, es sei denn, man nimmt die Feststellung als Begründung, daß jede Erzählung ja nie voll an den erzählten Tatbestand heranreiche, auch wenn sie noch so sehr um Sachlichkeit bemüht sei.

Eine solche Feststellung ist aber eine bloße Banalität, jenseits derer es erst interessant werden kann. Es gibt unzählige Formen des Erzählens: wissenschaftliche Berichte, frei schwebende Märchen und Sagen, ehrliche Entschuldigungsreden oder bewußte Lügengespinste, übertreibende Preisreden oder untertreibende Kleinmachversuche. Die Ausrede ist nur eine unter all den übrigen Erzählungsarten, und zwar nicht einmal eine echte, die für sich selbst bestehen könnte. Sie ist vielmehr eine Unterart, nämlich eine Spezialform der Lüge. Über ihr Aufblasen zur Erzählung an sich kann man nur den Kopf schütteln.

Ausreden sind Lügen zur Selbstverteidigung. Breithaupt führt die von ihm behauptete begriffliche Allzuständigkeit der Ausrede auf die angebliche „Ur-Ausrede“ von Adam in der Bibel zurück, der von Gott gefragt wird, warum er verbotenerweise vom Baum der Erkenntnis gegessen habe. Adam antwortet, daß Eva ihn dazu verführt habe – doch gerade das war keine Ausrede, sondern eine echte Auskunft! Gott fragt Adam, warum er gegessen habe, und Adam erwidert (3. Mose 12): „Das Weib, das du mir zugeteilt hast, gab mir von dem Baum, und ich aß.“ Sachlicher und ehrlicher geht’s nun wirklich nicht. Von Täuschungsabsicht, also Ur-Ausrede keine Spur.

Klassische Ausreden sind zum Beispiel: „Leider bin ich etwas zu spät, ich komme gerade von einer Sitzung.“ Oder: „Ich muß jetzt leider gehen, weil ich noch zu einer anderen Sitzung muß.“ Oder: „Entschuldigung, bei mir zu Hause war gestern Stromausfall, deswegen habe ich das Protokoll nicht mehr rechtzeitig geschafft.“ Oder, wenn man bei Rot über die Kreuzung fährt und dabei erwischt wird: „Die Ampel war noch fast gelb.“ Oder beim falschen Parken: „Ich bin ja gleich weg!“

Jede dieser Ausreden muß gar keine sein, die Auskunft könnte durchaus auch der Wahrheir entsprechen. Meistens ist das freilich nicht der Fall, und der Adressat glaubt das in der Regel auch nicht, läßt es aber durchgehen, weil der Fall des größeren Aufhebens nicht wert ist. Die Ausrede ist gewissermaßen die Lüge im Pfennigformat und kann als solche sogar als soziales Schmiergeld funktionieren. Man nimmt sie hin, um sich größere Aufregungen zu ersparen, und läßt es den Ausreder nicht spüren, daß man ihn durchschaut. Wer allerdings allzu oft zu Ausreden greift, rückt sich moralisch schließlich doch ins Zwielicht.

Für größere, justizförmige Fälle taugt der Begriff der Ausrede nicht, Breithaupt zum Trotz. Es gibt dort nur moralisch dubiose, „faule“ Ausreden. Ein des Mordes oder des schweren Diebstahls Angeklagter oder gar schon Überführter kann sich nicht einfach aus der Anklage herausreden, sondern er streitet die Tat entweder ab, oder er erklärt, wie es – aus seiner Sicht – zu ihr gekommen ist. In beiden Fällen geht es „um die Wahrheit und nichts als die Wahrheit“. Ist die Wahrheit am Tag und die Schuld offenbar, hilft nicht einmal mehr Schönrednerei. Der Überführte kann nur noch um Gnade bitten.

Der Richter prüft, wie es so schön präzise heißt, die „mildernden Umstände“, das heißt, er versucht, sie mit der Schwere der Schuld in „gerechte“ Beziehung zu setzen; und da gelten nur härteste Tatsachen. Hierzu zählen zum Beispiel die große Jugend des Delinquenten oder sein großes, „ehrwürdiges“ Alter, oder die bisherige Unbescholtenheit, das harte Los, das ihm das Leben zugemessen hat, gewisse gute Taten, die er außer und neben seinen Straftaten vollbracht hat, allenfalls noch der Grad der Reue, die er glaubhaft bezeugt.

Zu behaupten (wie Breithaupt das tut), die gesamte menschliche Erzählkultur sei nichts weiter als eine „Kultur der Ausrede“, jeder Erzähler letztlich nichts weiter als ein Angeklagter vor einem göttlichen Strafgericht, welcher mit allen, auch den allerfaulsten, Mitteln seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen versucht – so etwas grenzt an Aberwitz, erinnert an die finstersten Alpträume spätantiker Gnostiker. Um so grotesker, daß das alles in Breithaupts Buch im Stil aufgekratztester Seminarfröhlichkeit einherkommt. Das Buch wimmelt geradezu von modischen Lesefrüchten und aktuellen Paßwörtern, doch nichts paßt zusammen.

Immerhin liegt es voll im Trend. Nach Ausreden für alles mögliche zu suchen, ist zur Zeit ausgesprochen „in“. Es gibt Rankings für die besten Ausreden in bestimmten, immer wieder vorkommenden Rechtfertigungslagen, es gibt entsprechende Ratgeberbücher und Internet-Austauschbörsen. Und es gibt mittlerweile auch Plattformen, wo man sich über die neue Ausreden-Industrie lustig zu machen versucht und Witze darüber produziert, etwa den folgenden:

Der Chef fragt: „Warum kommen Sie so spät ins Büro?“ Antwort: „Unser Nachbar hat bei offenem Fenster einen Videofilm angesehen, und da war eine Schießerei, und das war so laut, da habe ich mich gefürchtet, und da habe ich mich nicht aus dem Haus getraut.“ Der Chef: „Aber das kann doch nicht so lange gedauert haben. Jetzt ist gleich Mittagspause, und Sie sind gerade erst rein.“ Antwort: „Ich habe mich nicht getraut, weil ich mich so geschämt habe für die dämliche Ausrede, die ich Ihnen nun also aufgetischt habe.“

Man sieht: Die deutsche Erzählkultur prosperiert im Zeichen der Ausrede. Es reicht inzwischen sogar schon für ein Suhrkamp-Taschenbuch.

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