© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/12 04. Mai 2012

Eine Attraktion der roten Preußen
Vor fünfzig Jahren marschierten erstmals NVA-Soldaten vor der Berliner Neuen Wache auf / Eine ideologische Volte auf der Suche nach Traditionslinien
Jan von Flocken

Den wenigen Touristen, die es am 1. Mai 1962 nach Ost-Berlin gezogen hatte, bot sich auf der Straße Unter den Linden ein seltsames Schauspiel. Um 10 Uhr zog ein Postenpaar mit geschultertem Karabiner vor der Neuen Wache, nunmehr „Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus“, auf. Vier Stunden später marschierte auch noch ein Spielmannszug nebst bewaffneter Begleitkompanie zur Großen Wachablösung.

Alles an diesem Zeremoniell in der sozialistischen Hauptstadt erinnerte an die Rituale der Wehrmacht: Farbe und Zuschnitt von Uniformen und Ausrüstung, einschließlich des 1961 wieder eingeführten Paradesäbels, Stahlhelm, Marschmusik und sogenannter Stechschritt, exakt nach dem preußischen Exerzierreglement von 1812. Nur die Offiziere saßen nicht mehr zu Pferde. Das Ganze wirkte auch deshalb befremdend, weil die DDR-Ideologen ursprünglich alles Preußische grundsätzlich verteufelt hatten. Um jedwede Erinnerung zu tilgen, wurden Schlösser gesprengt, Denkmale vernichtet, Straßen und Plätze umbenannt. Auch das von Karl Friedrich Schinkel bis 1818 als Wachhaus für die Garde des Preußenkönigs errichtete klassizistische Gebäude Unter den Linden, im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, sollte auf Betreiben von Berliner FDJ-Funktionären der Spitzhacke anheimfallen.

Doch nach der Wiederbewaffnung beider deutscher Teilstaaten in den fünfziger Jahren und der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht stellte sich die Frage nach den Traditionen der jeweiligen Streitkräfte. Damit hing wesentlich das äußere Erscheinungsbild zusammen. Während die Bundeswehr demonstrativ am US-amerikanischen Vorbild orientierte Uniformen trug, hatte man für die DDR-Armee anfänglich das russische Modell mit Stehkragen, Gimnastjorka-Waffenrock und breiten Schulterklappen gewählt. Das änderte sich 1957 mit der 1. Bekleidungsvorschrift für die Nationale Volksarmee (NVA). Nun wurden Uniformen nach altem Muster des kaiserlichen Heeres eingeführt. Bei der Felddienstuniform fiel das nicht so evident aus, aber die Parade-Adjustierung erinnerte nicht nur an die Wehrmacht, sondern übernahm sie fast deckungsgleich.

In diese Traditionslinie fielen auch NVA-Militärparaden und Großer Wachaufzug Unter den Linden. Vor der Neuen Wache paradierten am 18. September 1818 erstmals die Soldaten des Garde-Grenadier-Regiments Nr. 1 anläßlich des Besuchs von Zar Alexander I. Genau 100 Jahre, bis 1918, diente das Gebäude als „Haupt- und Königswache“. 1931 wurde es zum Ehrenmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs umgestaltet. Während der Weimarer Republik galt die Neue Wache als Ort stillen Gedenkens; nur zwei Schutzpolizisten standen hier Posten. Letztere ersetzten die Nationalsozialisten schon im März 1933 durch eine militärische Doppelwache. Für die DDR-Propaganda erzeugte dieses Vorbild ein erhebliches Dilemma. Noch 1951 waren die Marmorstandbilder der preußischen Generale Scharnhorst und Bülow, die vor der Neuen Wache standen, auf Anweisung von SED-Chef Walter Ulbricht entfernt und in einem Museumsdepot versteckt worden.

Das Scharnhorst-Denkmal fand indes Gnade und sah sich, wenn auch von der Straßenfront nach hinten versetzt, 1964 wieder aufgestellt. Zwei Jahre später, am 17. Februar 1966, wurde sogar der Scharnhorst-Orden als höchste militärische Auszeichnung der DDR gestiftet. In einer tollkühnen ideologischen Volte hieß es nun, die preußischen Traditionen seien mit neuem sozialistischem Inhalt erfüllt worden. Ab 1962 fand an jedem Mittwoch sowie an hohen Staatsfeiertagen um 14.30 Uhr der Große Wachaufzug Unter den Linden statt. Bald erwuchs aus diesem Zeremoniell eine beliebte Touristenattraktion. Die agierenden Soldaten wurden in einer besonderen Truppe, dem „NVA-Wachregiment Friedrich Engels“, zusammengefaßt, dessen Angehörige seit Juni 1962 ein Ärmelband am linken Arm als besonderes Kennzeichen trugen. Das Regiment bestand aus sieben Kompanien, die in einem Kasernenkomplex am nördlichen Spreeufer zwischen Bahnhof Friedrichstraße und der Museumsinsel stationiert waren.

Das bunte Schauspiel der drei Ehrenkompanien des Wachregiments (quasi einer Elite in der Elite), die kleinen und großen Wachablösungen nebst Stechschritt und Marschmusik dokumentierten wohl auch, daß die DDR sich mittlerweile als eine Art rotes Preußen verstand.

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