© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/12 11. Mai 2012

Lockerungsübungen
Alles Wissen ist vorhanden
Karl Heinzen

Mario Monti hat im vergangenen Jahr das Amt des italienischen Ministerpräsidenten übernommen, ohne daß er zuvor von den Bürgern seines Landes durch eine Wahl damit beauftragt worden wäre. Dieses Manko will er nun kompensieren, indem er sich unmittelbar an die Bevölkerung wendet, um diese zur Unterstützung seines Regierungsauftrages aufzufordern.

Der italienische Staat ist hoffnungslos überschuldet, und einer Erhöhung der Einnahmen sind enge Grenzen gesetzt. Folglich muß sich der Blick auf die Ausgabenseite richten. Daher möchte Monti nun vor allem auch der Verschwendung von Steuermitteln Einhalt gebieten. Da dieses Phänomen fester Bestandteil der Alltagserfahrungen der Bürger ist, soll ihre Expertise auf diesem Gebiet nicht länger brachliegen. Auf einer staatlichen Internetseite können die Italiener jetzt mit einem Formular Fälle melden, in denen nach ihrer Auffassung öffentliche Mittel sinnlos, ineffizient oder möglicherweise sogar illegal ausgegeben werden. Bereits in den ersten 24 Stunden nach der Freischaltung haben über 40.000 Bürger von diesem Angebot Gebrauch gemacht.

Montis Vorgehen als bloße Stimmungsmache oder gar Einladung zur Denunziation zu schelten, wäre kurzsichtig. Es ist vielmehr als ein weiteres Indiz dafür zu sehen, daß sich heute in der europäischen Verfassungsentwicklung die Chance bietet, das antiquierte Repräsentativsystem zu überwinden. Sicher ist es so, daß nicht alle Bürger über alle öffentlichen Angelegenheiten Bescheid wissen. Dieses Los teilen sie mit den Politikern. Jeder verfügt aber über spezielle Kenntnisse, die er dem Gemeinwesen zum Nutzen aller zur Verfügung stellen kann. In der Summe sind alle Kompetenzen und alles Wissen unmittelbar bei den Bürgern vorhanden und abrufbar. Parlamente als zwischen Regierung und Bevölkerung eingeschobene Institutionen werden damit entbehrlich. Sie haben sich zudem in der Praxis nicht als Kristallisationspunkt von Eliten bewährt, sondern als Tummelplatz von Sonderinteressen diskreditiert.

In einem nächsten Schritt müßten dann die Bürger nur noch die Regierungsgeschäfte selbst in die Hand bekommen. Sporadische Wahlen, die nie mehr als flüchtige Stimmungsbarometer sind, können auch hier nicht eine wirklich demokratische Legitimation ersetzen.

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