© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/12 18. Mai 2012

Deutsche Einbußen durch den Euro
Tarifpolitik: Finanzminister Schäuble wünscht höhere Löhne in Deutschland – zum Nutzen Europas
Bernd-Thomas Ramb

Es ist mehr als ungewöhnlich, wenn sich ein Bundesfinanzminister in Tarifverhandlungen einmischt, sei es auch nur durch die Kommentierung möglicher, aber noch nicht feststehender Ergebnisse. Wolfgang Schäuble (CDU) hat zugunsten der Gewerkschaften und zu Lasten der Arbeitgeber noch vor Ende der laufenden Verhandlungen es öffentlich für in Ordnung befunden, „wenn bei uns die Löhne aktuell stärker steigen als in allen anderen EU-Ländern“. Der ungewöhnliche Teufelsritt des Finanzministers kommt einem Affront gegenüber den Unternehmen gleich. Die angekündigten Warnstreiks der Gewerkschaften erhalten damit den hochoffiziellen staatlichen Segen.

In Deutschland herrscht das Prinzip der Tarifautonomie. Die Lohnhöhe verhandeln Arbeitnehmervertreter und Unternehmensverbände allein unter sich – ohne staatliche Einmischung, Vorgaben oder Anordnungen. Auch eine einseitige Kommentierung laufender Verhandlungen ist eine Einmischung. Sie wirkt besonders brisant, weil die aktuellen Lohnkämpfe die härtesten seit Jahren sind. Der Forderung der Gewerkschaften von 6,5 Prozent mehr Lohn für die 3,6 Millionen Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie steht das Arbeitgeberangebot von drei Prozent entgegen; ein zunächst groß erscheinender, aber für den Beginn der Verhandlungen nicht ungewöhnlicher Unterschied.

Bislang haben sich die Tarifpartner noch immer nach mehr oder weniger langen Sitzungen und gelegentlichen Streikwellen schließlich geeinigt – auch ohne staatliche Zielvorgaben. Wenn jetzt der Bundesfinanzminister dieses Tabu bricht, müssen schwerwiegende Gründe dahinter stehen. Allein parteitaktisches Verhalten zur Beeinflussung der aktuellen Wahlen zu vermuten, wäre eine Erklärung.

Der Effekt, die CDU als arbeitnehmerfreundliche Partei vorzuführen, ist zumindest nicht als nebensächlich einzustufen. Schäuble geht es aber um mehr – um Europa. In Deutschland sollen die Löhne vor allem stärker steigen als im restlichen Euro-Land.

Doch bedarf es dazu einer Politikerempfehlung? Die ökonomischen Tatsachen regeln dies eigentlich von alleine. Die deutsche Wirtschaft wächst vergleichsweise stärker als die der anderen Euro-Länder – will sagen: Die deutsche Wirtschaft ist eigentlich die einzige, die nicht schrumpft, denn bei prognostizierten Wachstumsraten von 0,8 Prozent kann im Grunde nicht mehr von einem Wachstum gesprochen werden. In den anderen Ländern, nicht nur in der extremen Problemzone Griechenland, Portugal und Spanien, schrumpft das Bruttoinlandsprodukt. Würde sich die Lohnentwicklung nach der Produktionsveränderung richten, wären dort Lohnsenkungen und in Deutschland ein Lohnstillstand angesagt.

Andererseits ist der Lohnverlauf der vergangenen Jahre beachtlich. Die deutschen Einkommen haben sich in den ersten Jahren des Euro äußerst bescheiden entwickelt. Während in den heutigen Problemländern Lohnfettlebe angesagt war, herrschte in Deutschland eiserne Zurückhaltung. So stieg nach den Zahlen von Eurostat der Nettojahresverdienst der Deutschen in den ersten zehn Jahren Euro-Existenz im Jahresschnitt nur um 2,2 Prozent. Andere Euro-Länder verhielten sich großzügiger. In Spanien wuchs der Nettojahresverdienst im gleichen Zeitraum durchschnittlich um 4,2 Prozent, in Portugal um 5,9 und in Griechenland um 11,3 Prozent. Zum Vergleich: In diesem Zeitraum ist der Nettojahresverdienst in den USA unverändert hoch geblieben und in Großbritannien sogar zurückgegangen.

Noch prekärer aus deutscher Sicht ist die Entwicklung des Reallohns, der die inflationäre Entwertung des Euro einbezieht. Nach einer Untersuchung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung sind die durchschnittlichen realen Bruttolöhne seit dem Jahr 2000 um insgesamt 2,9 Prozent zurückgegangen.

Wer Gewerkschaftszahlen eher bezweifelt, kann auf die Inflationszahlen von Eurostat zurückgreifen. Demnach betrug der Anstieg der Verbraucherpreise in Deutschland von 2000 bis 2010 insgesamt 17,3 Prozent. Deutschland verzeichnete damit im Vergleich zu den anderen Euro-Ländern noch den geringsten Preisanstieg. Bei gleichzeitig niedriger Zunahme der Nettojahreseinkommen stieg deren Realwert innerhalb dieser zehn Jahre um insgesamt 4,8 Prozent – im Jahresdurchschnitt also um weniger als ein halbes Prozent.

Das Ergebnis der deutschen Bescheidenheit bei der Einkommensentwicklung, verbunden mit einer schwäbisch anmutenden Preisdisziplin, ist die nun allseits bewunderte relative wirtschaftliche Stärke. Die anderen Euro-Länder weisen eine gegensätzliche Entwicklung auf: höhere Einkommenssteigerung, höhere Inflationsraten und weniger Wirtschaftswachstum. Mit dem Blick auf die Lohnentwicklung der anderen Euro-Länder wird der Wunsch nach höheren deutschen Löhnen somit grundsätzlich verständlich. Die laufenden Tarifverhandlungen werden die Vergleichszahlen auch kaum ignorieren können. Schäubles Wunsch ist daher zum großen Teil die Vorwegnahme zwangsläufiger Ergebnisse. Andererseits provoziert er Überreaktionen – mit fatalen Folgen

Natürlich sind kräftige Lohnsteigerungen vor allem im Interesse der anderen Euro-Länder, haben sie doch auch höhere Inflationsraten in Deutschland und eine Schwächung der deutschen Wirtschaftskraft zur Folge. Da die Anpassung der anderen Euro-Länder an die deutschen Stärken nicht erreicht wird, soll das deutsche Niveau auf die Euro-Niederungen herabgeschwächt werden.

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