© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/12 18. Mai 2012

Karl der Große saß nie auf seinem Thron
Das „erfundene Mittelalter“: Heribert Illig untermauert seine These mit der bauhistorischen Analyse der Aachener Kaiserpfalz
Wolfgang Kaufmann

Bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts warnte der Jesuit Jean Hardouin davor, mittelalterliche Quellen pauschal als echt anzusehen. Hieran anknüpfend brachte der Volksschullehrer Wilhelm Kammeier 1935 ein Buch mit dem Titel „Die Fälschung der deutschen Geschichte“ heraus, in dem erstmals davon die Rede war, daß die fränkischen Könige „erdichtete Persönlichkeiten sind“.

Kammeiers Ideen wurden dann zu Beginn der neunziger Jahre durch sogenannte Chronologiekritiker wie Heribert Illig, Gunnar Heinsohn, Hans-Ulrich Niemitz, Hans-Joachim Zillmer und Uwe Topper aufgegriffen und weiterentwickelt, was die Wikipedia-Meinungspolizisten nunmehr mit dem Vorwurf quittieren, hier würde eine dubiose „Form von Geschichtsrevisionismus“ betrieben. Topper, dem restlos alle Texte aus der Zeit vor 1500 suspekt erscheinen, bekommt sogar Nähe zum Rechtsextremismus attestiert. Vermutlich wird hier mit Schmutz geworfen, weil das „erfundene Mittelalter“ durchaus auch als Politikum taugt. Dies wird vor allem verständlich, wenn man die Schriften Heribert Illigs betrachtet.

Der Germanist hat mittlerweile acht Bände zum Thema „Fiktion dunkles Mittelalter“ vorgelegt und vertritt die Ansicht, daß es sich bei dem Zeitraum zwischen August 614 und September 911 um „Phantomjahrhunderte“ handele: Deren Geschichte müsse als reines Phantasiekonstrukt betrachtet werden, welches auf Initiative von Kaiser Otto III. und Papst Silvester II. geschaffen worden sei. Als Motiv gibt Illig an, die beiden hätten an der kalendarischen Uhr gedreht, um das Abendland ins Jahr „999 nach Christi“ zu katapultieren und das symbolträchtige 7. und letzte Jahrtausend der Schöpfungsgeschichte einleiten zu können.

Die Chronologiekritiker berufen sich bei ihrer Argumentation insbesondere auf die Quellenarmut bezüglich der genannten drei Jahrhunderte. Der Haken an der Sache ist allerdings, daß auch die vergleichsweise gut dokumentierte Zeit Karls des Großen (gestorben 814) in dem bewußten Zeitfenster liegt. Deshalb ist es zwingend nötig, die Existenz dieses ebenso omnipotenten wie omnipräsenten Überkaisers anzuzweifeln. Und genau das tut Illig seit 1992 mit Vehemenz.

So trägt schon seine allererste Publikation den provokanten Titel: „Karl der Fiktive, genannt Karl der Große. Als Herrscher zu groß, als Realität zu klein“. Dabei rekurriert er unter anderem auf den Umstand, daß bereits 101 von 270 angeblichen Urkunden Karls als gefälscht entlarvt wurden und auch archäologische Spuren des Kaisers weitgehend fehlen: Wo stehen denn die 16 Kathedralen, 65 Königspfalzen und 232 Klöster, die Karl der Überlieferung nach habe errichten lassen? Aber die Existenz des „Vaters Europas“ abzuleugnen, grenzt in Zeiten des oktroyierten Europawahns ja schon fast an Volksverhetzung – deshalb wohl auch der explizite oder implizite Vorwurf der geistigen Affinität zum Rechtsextremismus.

Aufgrund dieser Sachlage braucht ein Vertreter der These von den erfundenen Jahrhunderten des Mittelalters wasserdichte Beweise dafür, daß Karl der Große tatsächlich nie gelebt hat. Das ist der Grund, warum Illig immer wieder am greifbarsten Sachzeugnis der Regierungszeit des angeblich fiktiven Kaisers ansetzt, nämlich der Aachener Pfalzkapelle, welche Ende des 8./Anfang des 9. Jahrhunderts fertiggestellt worden sein soll: Gelingt der Nachweis, daß dieses Bauwerk jünger oder älter ist, gibt es einen perfekten Kronzeugen gegen den Imperator ab.

Dabei verwies Illig zunächst auf zwei Dutzend anachronistische Bauelemente, die eher auf eine Entstehung im 11. Jahrhundert hindeuten. Dies trug dem Querdenker aber nur den hämischen Spott der Aachen-Lobby um die Mediävisten Max Kerner und Dietrich Lohrmann und ein. Kerner nannte Illig freiweg den „neuen Däniken“. Derartige verbale Tiefschläge ändern jedoch nichts an der tatsächlich arg befremdlichen Tatsache, daß die Pfalzkapelle eine massive steinerne Zentralkuppel besitzt, welche architekturhistorisch sehr viel eher in die Zeit nach 1060 paßt. Das gleiche gilt für die Ringanker, ohne die die Statik der Aachener Kuppel nicht gewährleistet wäre. Auf diese Verstärkungen kommt Illig nun in seinem aktuellen Werk zurück, in dessen Untertitel er ankündigt, Karls Reich mit technischen Belegen „ins Nichts zu stürzen“.

Entscheidend für die Festigkeit der Kuppel sind ganz zweifelsfrei jene Eisenstangenanker, denen der streng karlsgläubige Dombaumeister Helmut Maintz höchstpersönlich bescheinigt, daß sie „alle satt im karolingischen Mörtel“ liegen, was einen späteren Einbau definitiv ausschließe. Nur geben dann eben die Dimensionen dieser Metallteile Anlaß zu Verwunderung, denn es handelt sich hierbei immerhin um 6,40 Meter lange Vierkantelemente mit einem Gewicht von über 200 Kilogramm. Solche Stücke konnte man mit der Technik des 8./9. Jahrhunderts nämlich gar nicht gießen; hierzu braucht es Hochöfen, wie sie frühestens im 12. Jahrhundert verwendet wurden. Ebenso war es völlig unmöglich, Stangen mit einem Querschnitt von bis zu acht mal acht Zentimetern von Hand zurechtzuschmieden. Das erforderte hydraulische Eisenhämmer, die es aber auch erst nach 1100 gab. Hieraus zieht Illig den durchaus logischen Schluß: „Gottesfurcht und Gottvertrauen können technische Voraussetzungen nicht ersetzen“, weshalb man davon ausgehen müsse, daß die Pfalzkapelle mindestens 300 Jahre jünger sei als angegeben. Trotzdem stellt sich natürlich die Frage, ob diese Beweisführung dazu berechtigt, die gesamte Karolingerzeit als frommen Betrug hinzustellen und ein neues Geschichtsbild zu entwerfen.

Heribert Illig: Aachen ohne Karl den Großen. Technik stürzt sein Reich ins Nichts. Mantis Verlag, Gräfelfing 2011, broschiert, 199 Seiten, Abbildungen, 14,90 Euro

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