© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/12 25. Mai 2012

Die traumatisierte Generation
Geschichtspolitik: Eine Berliner Veranstaltung geht der Frage nach den Spätfolgen von Vertreibung und Bombenkrieg nach
Christian Dorn

Das Drachenblut der politischen Korrektheit imprägniert besonders Evangelische Kirchentage. Denn „die sind alle in Achtundsechzig gebadet“, sagte die auf das Thema deutsche Kriegstraumata spezialisierte Publizistin Sabine Bode. Anläßlich der Podiumsdiskussion „‘Das hört nie auf’: Traumata in den nächsten Generationen“, die zum Begleitprogramm der vom Zentrum gegen Vertreibungen ausgerichteten Ausstellungstrilogie „Heimatweh“ im Berliner Kronprinzenpalais Unter den Linden gehört (JF 14/12), berichtete Bode, daß sie von protestantischen Kirchenvertretern bei Anfragen zu diesem Thema immer wieder Absagen erhalte.

Für die Autorin, die bereits 2006 mit dem Buchtitel „Die deutsche Krankheit – German Angst“ hervorgetreten war, ist diese Abwehr keine neue Erfahrung. Sie bekennt, selbst zwanzig Jahre mit einer übernommenen Schuld nach den Auschwitzprozessen gelebt zu haben. Dementsprechend habe sich auch die Psychoanalyse und Psychotherapie in der Bundesrepublik dem Thema der Vertreibung weitgehend verweigert: „Die Therapeuten fühlten sich nicht berechtigt, diese Thematisierung zuzulassen.“ Daß die Traumata der Betroffenen jahrzehntelang verschwiegen worden seien, weil die deutsche Gesellschaft diese Erfahrungen tabuisiert habe, wäre Grund für eine zusätzliche zweite Trauer.

Der Theologe Joachim Süß teilt diesen Befund. Seiner Wahrnehmung zufolge leben wir „noch immer in einer zutiefst traumatisierten Gesellschaft“, die sich bis heute der mit dem Vertreibungsverbrechen verbundenen Trauer nicht wirklich gestellt habe. „Symptomatisch für die Mehrheit in unserem Land“ sei der jüngste Fernsehauftritt des grünen Bundestagsabgeordneten Volker Beck gewesen, der in der Sendung „Anne Will“ sinngemäß sagte, daß seine Eltern als Sudetendeutsche ja „Teil des Nazi-Regimes“ und damit schuldig gewesen seien. Süß beklagte auch das fehlende historische Wissen in der jüngeren Generation. Für diese sei Breslau schlicht eine polnische Stadt, weshalb unter „Legitimationszwang“ gerate, wer sich der polnischen Schreibweise Wroclaw verweigere. Wie Buchautorin Bode sieht auch Süß in dieser Frage eine „Leerstelle der protestantischen Kirche“, die sich dem Vertreibungsthema über drei Jahrzehnte verweigert habe. Bezeichnenderweise habe sich die hiesige Psychoanalyse dem Thema erst durch die Aktivitäten amerikanischer und israelischer Forscher geöffnet.

Den einstigen „blinden Fleck“ bestätigt auch Psychotherapeutin Ingrid Meyer-Legrand. Symptomatisch für die gesellschaftliche Disposition in der Frage der Vertriebenentraumata erscheint ihre persönliche Erinnerung aus den siebziger Jahren: Als 13jährige habe sie sich die Erlebnisse ihrer Mutter angehört mit der Haltung einer Angehörigen der Entnazifizierungskommission. Genauso tabuisiert wie die Vertreibung seien die Erfahrungen der Generation derer, die die Feuerstürme der bombardierten deutschen Städte überlebt haben wie etwa in Dresden und Hamburg. Daß alle Betroffenen ihre traumatischen Geschichten gehütet hätten „wie einen Nibelungenschatz“, so die Moderatorin Margit Miosga, liegt aus Sicht von Meyer-Legrand an der fehlenden gesellschaftlichen Resonanz, die das Thema verhindere. Diese Verweigerung wiederhole sich auch bei den Stasi-Opfern, deren Geschichte die Gesellschaft nicht hören wolle. Die Angst vor dem Verdikt „Jammerossi“ hindere die Betroffenen oftmals, ihr Schicksal zu thematisieren und damit Hilfe erfahren zu können.

Beredt waren an diesem Abend die Stimmen aus dem Publikum, das fast ausschließlich aus Frauen bestand. So bekannte eine ältere Dame, „mit zunehmendem Alter spüre ich, daß ich hier nicht verwurzelt bin“. Eine andere Besucherin – sich mit den Worten „Ich bin Helga R., mit Flüchtlingsschein A“ vorstellend – erklärt, daß das Wort „Heimat“ für sie ein Fremdwort geblieben sei. „Ich hab höchstens eine Identität als Deutsche.“ Die Generation der Enkel sehe das anders: „Wir sind Europäer, und ihr wißt doch auch, daß Hitler schuld gehabt hat!“

Geschichtspolitisch brisant dürfte auch der nächste Diskussionsabend in dieser Reihe werden, wenn Unter den Linden über das große Schweigen nach den Vergewaltigungen deutscher Frauen durch Angehörige der Roten Armee am Ende des Zweiten Weltkrieges („Frau, komm!“) diskutiert wird (31. Mai 2012, 18.30 Uhr).

Die Ausstellung der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen im Kronprinzenpalais (Unter den Linden 3, 10117 Berlin) ist noch bis zum 24. Juni, täglich von 10 bis 22 Uhr
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