© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/12 25. Mai 2012

„In eine beßre Welt entrückt“
Nachruf: Zum Tode des Jahrhundertsängers Dietrich Fischer-Dieskau
Markus Brandstetter

Er war kein geborener Sänger wie die Tenöre Fritz Wunderlich, Mario Lanza oder Benjamino Gigli; kein Mensch, der nur singen konnte und sonst gar nichts, was man – um einmal bei der leichten Muse vorbeizuschauen – von Edith Piaf, Jim Reeves, Carlos Gardel oder Elvis Presley sagen muß. Dietrich Fischer-Dieskau, der vergangenen Freitag im Alter von 86 Jahren verstorben ist, hätte man sich auch als Hochschullehrer (der er streckenweise auch war), Diplomat oder Klinikdirektor vorstellen können.

Fischer-Dieskau hat auch nicht im naiven Sinne schön gesungen wie die Baritone Josef Metternich oder Thomas Hampson, so wie Naivität, unkontrollierte Kraftentfaltung und ungebremste Lebensfreude ohnehin nicht seine Sache waren. Seine Stimme war ein schlanker, lyrischer Bariton. Besondere Höhen und Tiefen waren ihm verwehrt, weshalb er ab dem eingestrichenen C meist in die Kopfstimme wechselte. Als Baßbariton wie José van Dam oder Thomas Quasthoff ist er nicht vorstellbar, als Tenor durchaus, und als solcher hätte er viel Ähnlichkeit mit Peter Schreier gehabt. Sein wohltimbriertes und in den frühen Jahren sehr flexibles Organ war mitunter rauh um die Ecken und im Ansatz aspiriert. Im Grunde verfügte er über keine wirklich schöne Stimme, und genau deswegen vermochte er ihr durch alle seine Register hindurch sämtliche Töne und Laute des Ausdrucks, von ephemerer Süße über grell schillernden Haß bis zu erotischem Wohlklang, zu entlocken. Von allen Baritonen des 20. Jahrhunderts besaß Fischer-Dieskau, was Ausdruck und Klanggebung angeht, die größte Bandbreite.

Das französische Fernsehen hat 1967 eine Probe von Hugo Wolfs Feuerreiter aufgenommen. Da sieht man einen damals noch recht untersetzten Fischer-Dieskau im schwarzen Rollkragenpullover, wie er in einem Bauernhaus mit Swjatoslaw Richter eingangs scherzt und lacht. Aber sowie der russische Pianist mit den chromatisch aufsteigenden Triolen begonnen hat, verwandeln sich Pianist und Sänger im Wimpernschlag in ein kompaktes Duo, das mit unerhörter Dramatik durch Mörikes schauerliche Ballade und Wolfs irrsinnig flackernde Komposition fetzt. Man sieht und hört, daß es Sänger und Pianist mit Mörikes Worten „Hinter’m Berg, hinter’m Berg brennt es in der Mühle“ und Hugo Wolfs Vortragsbezeichnung „wild“ todernst ist.

Nichts zeigt besser als diese grieseligen alten Bilder, daß Fischer-Dieskau Klavierlieder nicht nur sang, sondern rezitierte, deklamierte und spielte, ja hauchte, stöhnte und schrie. Natürlich erfüllt er lyrische Gebilde wie Schuberts „Leise flehen meine Lieder“, „Du bist die Ruh’“, Schumanns „Mondnacht“ oder Richard Strauss’ „Morgen“ mit kantablem Schmelz, aber das konnten andere auch und manche sogar besser.

Fischer-Dieskaus größte Stärke diesseits der Oper lag jedoch darin, daß er dramatische Balladen, die in fünf Minuten den Untergang eines Menschen berichten (Schuberts „Erlkönig“, Schumanns „Belsazar“, Carl Loewes „Edward“, „Elvershöh“), wie eine Miniatur-Oper zu gestalten wußte. Keiner konnte wie er den Zuhörer von den Selbstmordgedanken des Müllerburschen („Der Müller und der Bach“) und der trostlosen Einsamkeit des Winterreisenden („Der Leiermann“) dermaßen überzeugen.

Im Leben der Sopranistin Maria Callas (1923–1977) waren die dunklen Unterströmungen des Lebens immer gegenwärtig, und in ihren großen Momenten hat sie diese dem Zuhörer so geoffenbart, wie ein zuckender Blitz eine nächtliche Gebirgslandschaft erhellt. Auch Fischer-Dieskau, der Krieg und amerikanische Gefangenschaft mitgemacht hatte, kannte den Styx, der das Leben vom Tod scheidet, aber sein Blick darauf war nicht irrsinnig flackernd, sondern kühl konstatierend, so, als wollte er sagen, daß er sehr wohl wisse, daß es Tod und Verderben gebe, daß diese jedoch durch besonnene Beherrschung kontrolliert und durch gute Gegenkräfte in Schach gehalten werden könnten.

Fischer-Dieskaus Leben und Kunst waren das Produkt einer preußisch-strengen Erziehung, die es heute nicht mehr gibt und nie mehr geben wird. Sein Vater war ein Berliner Gymnasialdirektor, Gründer des Zehlendorfer Gymnasiums, Lehrer für Latein und Griechisch, aber kein trockener Pauker, sondern ein feinsinniger Geist, der Theaterstücke verfaßte und nebenbei komponierte. Seine Mutter war Lehrerin für Englisch und Französisch und hat den Grundstein dafür gelegt, daß Fischer-Dieskau später in vielen Sprachen (sogar auf ungarisch) mit idiomatischer Leichtigkeit zu singen vermochte. Ihre eigene „etwas piepsige Gesangsstimme“, so Fischer-Dieskau in seinen im Jahr 2000 erschienenen Erinnerungen „Zeit eines Lebens. Auf Fährtensuche“, spornte ihn in seinem Berufswunsch an: „Das mußte doch besser zu machen sein!“

Disziplin, Fleiß und Demut gegenüber der Musik und ihren Schöpfern waren das lebenslange Kapital des Sängers, die ihm sechzig Jahre lang künstlerische Höchstleistungen ermöglichten, die vielen seiner Zeitgenossen, für die die Kunst ein Zeitvertreib, die Technik ein Aperçu und Üben eine Beschwernis war, verwehrt blieben. Hermann Prey, Bernd Weikl oder Piero Cappuccilli sind mit besserem stimmlichen Material auf die Welt gekommen, blieben aber, von Produzenten und Dirigenten verschlissen, hinter ihren eigenen Möglichkeiten zurück und konnten – trotz individuell schöner Momente – sich mit dem Monolithen Fischer-Dieskau nie vergleichen.

Gesungen hat er alles, von Heinrich Schütz bis Aribert Reimann, von der Bach-Kantate über Messen, Requien (besonders Brahms und Britten) und Oratorien bis zur Operette. Obwohl ihm deutsche Musikdramen („Meistersinger“, „Tristan“, „Arabella“) gemäßer als italienische und französische Opern waren, hat er sich – was ihm hämische Kritik eingetragen hat – auch an Verdis anstrengende, weil hohe Baritonrollen („Macbeth“, „Rigoletto“, „Traviata“) gewagt und diesen Partien abseits vom Bel-Canto Ruhe und Humanität gegeben.

Natürlich war er ein Perfektionist, aber als der Regisseur Peter Beauvais 1976 die Meistersinger, wie Fischer-Dieskau bewundernd zugab, von „A bis Z auswendig konnte“ und „sich mehr Gedanken über die Oper gemacht hatte als ich selber“, da gab er dies neidlos zu. Er mußte sich nie einen Klavierbegleiter suchen. Weltklasse-Pianisten wie zu Anfang Gerald Moore und Jörg Demus, später Swjatoslaw Richter, Alfred Brendel oder Daniel Barenboim klopften von sich aus bei ihm an, um mit ihm zu musizieren.

Von allen Sängern des 20. Jahrhunderts hat Fischer-Dieskau das mit Abstand umfangreichste Werk auf Schallplatte hinterlassen. Von manchen Künstlern sagen Statistiken nicht viel, aber hier tun sie es einmal: Fünfzig Jahre stand er auf der Bühne, die meisten Kantaten von Bach und alle Passionen hat er gesungen, fast alle Lieder von Schubert, Schumann, Mendelssohn, Brahms, Strauss, Schoeck und Wolf und vieles von Loewe, Pfitzner, Hindemith, Britten und Berg auf Schallplatten eingespielt. Die „Winterreise“ hat er fünfmal aufgenommen, Mozarts „Figaro“ ebenso, die „Matthäus-Passion“ viermal, die „Zauberflöte“ dreimal – und so könnte man fortfahren. Seine Energie, seine Hingabe und seine schiere Lust an der Musik waren grenzenlos. So ganz nebenbei hat er auch noch gute Bücher („Auf den Spuren der Schubert-Lieder“) geschrieben, Meisterschüler unterrichtet, bessere Bilder als manch hauptberuflicher Kunstmaler gemalt und einige Jahre lang sogar dirigiert.

Fischer-Dieskau war der größte Bariton des letzten Jahrhunderts. Vielleicht wird es nie mehr einen wie ihn geben.

Foto: Dietrich Fischer-Dieskau an seinem Flügel in seinem Haus in Berlin (16. Mai 2011): Größter Bariton

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