© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/12 25. Mai 2012

Keine klaren Feindbilder
Der Abstand bleibt gewahrt: „Das Meer am Morgen“ von Volker Schlöndorff über die Geiselerschießungen 1941 in Frankreich ist als DVD erschienen
Sebastian Hennig

Ende März brachte der deutsch-französische Kulturkanal Arte die Erstausstrahlung des Filmes „Das Meer am Morgen“ von Volker Schlöndorff, beruhend auf einer Erzählung von Heinrich Böll und Aufzeichnungen von Ernst Jünger, insbesondere dessen im vergangenen Herbst postum veröffentlichter Abhandlung „Zur Geiselfrage“. Seine andere Pariser Auftragsschrift „Der Kampf um die Vorherrschaft in Frankreich zwischen Partei und Wehrmacht“ vernichtete er nach dem 20. Juli 1944. Der darin geschilderte Krieg im Krieg bestimmt die Handlung des differenzierenden Films.

1941 wird in Nantes ein Offizier auf offener Straße erschossen. Wie immer im Krieg treffen die Kugeln nicht allein das unmittelbare Opfer. Und so wie die Attentäter auf die relative Besatzungsruhe zielten, bewirkten sie drakonische Maßnahmen. Tief getroffen war zunächst die militärische Verwaltung in Paris, die eine ebenso fieberhafte wie aussichtslose Suche nach den Tätern anstellte, um aus Berlin drohende „rechtwidrige Repressionen“ abzuwenden. Als die Forderung nach einer Geiselerschießung übermittelt wird, ist der Befehlshaber Otto von Stülpnagel (André Jung) entsetzt: „Niemals hätte sich Napoleon so etwas in Preußen erlaubt.“

Mit mehr als tausend Offizieren wird das Land verwaltet, das geht nur durch Mitarbeit französischer Behörden. Der französische Landrat teilt die Ansichten der Besatzer: „Es ist keine Tradition der Franzosen, Soldaten, die ihre Pflicht tun, von hinten zu erschießen.“ Aber da ist auch ein korpulenter Ex-Genosse im Amt, der so übereifrig die Todesliste füllt, daß der Deutsche ihn bremsen muß: „Nein, keine Frauen.“

In der Präfektur, wo abstrakte Vorentscheidungen über Leben und Tod fallen, nimmt die Kamera (Lubomir Bakchef) das Geschehen mit einer verkippten Horizontale schräg ins Bild. Solche vorsichtigen Kunstgriffe durchziehen den Film. Sonst wird dem Zuschauer jede Ritze verstopft, die zu einer klaren Schuldzuweisung führt: Als die drei Attentäter die Bekanntmachung der Massenerschießung lesen, will der Todesschütze sich stellen, weil hier sein ohnehin gewagtes Leben gegen fünfzig Unschuldige gewechselt wird. Die eigentliche Auslösung der unseligen Aktion durch den beginnenden Rußlandfeldzug kommt versteckt zum Ausdruck, als der Offizier gegen den Franzosen äußert: „Meine Söhne riskieren täglich ihr Leben an der Ostfront. Dort ist der wahre Feind.“

Ein Priester erlebt in der Baracke mit den siebenundzwanzig Atheisten, die den sicheren Tod erwarten, etwas Ungeheuerliches. Er befindet sich in einer Gesellschaft von Märtyrern. Deren Würde drückt unerträglich auf sein verliehenes Amt. Die Einsammlung der Abschiedsbriefe stellt sich dar wie der Empfang der Sakramente. Die besondere Leistung, die Schlöndorff mit diesem Werk erbringt, liegt nicht im filmästhetischen Bereich. Es wurde solide gearbeitet, die Darsteller verkörpern glaubhaft, Kulisse und Kamera sind tadellos.

Ein bemerkenswertes Kabinettstück ist die Darstellung eines höflich reservierten Ernst Jünger durch Ulrich Matthes, Arielle Dombasle gibt im übrigen in einer kleinen Salonszene die Kinderärztin und Jünger-Geliebte Sophie Ravoux des Films. Keine schwüle Sentimentalität oder grobe Vereinfachung kommt vor, wie sie für die filmische Gestaltung eines so schwerwiegenden Geschehens im Werkzeugkasten des Genres bereitliegen. Die abwägende Sorgfalt verleiht dem Film etwas Kammerspielartiges. Durch verschiedene Perspektiven wird die verfitzte Lage in einzelne Stränge gesondert, ohne eine Ordnung hineinzutragen, die hier nicht zu haben ist. Intimität bleibt glaubhaft, weil der Film nicht manipulierend durch Schnitte und Großaufnahmen in Bereiche eindringt, die ihm naturgemäß verschlossen sind, wenn er redlich bleiben will. Es bleibt der nötige Abstand gewahrt, als Abstand der Kamera, beispielsweise, wenn der Todgeweihte zum letzten Mal seine Frau umarmt. Oder wenn die Gefangenen in der Baracke sich gegenseitig beschwören. Kein Voyeurismus entlastet den Zuschauer von der unerfreulichen Klarheit, mit der sich die scheußliche Lage darstellt.

Der siebzehnjährige Guy Môquet (Léo Paul Salmain) steht im Zentrum der Handlung, so wie er als Jüngster im fürsorglichen Mittelpunkt der Gefangenengruppe gestanden haben wird. Die letzten zehn unerträglichen Minuten gelten der Erschießung in der sonnenüberglänzten Sandgrube. Der junge Infanterist von der Ostfront bricht als defektes Glied aus der Kette der vorschriftsmäßig ablaufenden Unausweichlichkeit, ohne sie beeinflussen zu können.

Der Abschiedsbrief des Jüngsten unter den Geiseln wird seit einigen Jahren immer am Kalendertag der Hinrichtung in allen französischen Schulen verlesen. Der Film jedenfalls wäre eine passende Lektion für den Ethikunterricht, sofern die Lehrer sich den Fragen gewachsen zeigen, die hier ungelöst zur Darstellung gelangen. Die letzten Hinweise gelten dem ferneren Schicksal der beteiligten Personen. Ganz zum Schluß steht zu lesen: „Ernst Jünger est publié dans le Pleiade“, was der Untertitel übersetzt als „... wird in Paris hoch verehrt.“

DVD: Das Meer am Morgen, Originalfassung mit deutschen Untertiteln, Arte Edition 2012, Laufzeit etwa 140 Minuten

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