© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/12 25. Mai 2012

Viel Lärm um nichts
Vor 25 Jahren erhitzte die Volkszählung die Gemüter in der Bundesrepublik / Gegner warnten vor dem Überwachungsstaat und riefen zum Boykott auf
Michael Martin

Die Achtziger waren die Jahre des Protests. Der Nato-Doppelbeschluß war ein Dauerbrenner, die Anti-Atomkraft-Bewegung erhielt mehr und mehr Zulauf, und schließlich erhitzte auch die Volkszählung die Gemüter in der Bundesrepublik. Nach dem Willen der Regierenden sollten 1983 alle Volljährigen unter anderem über ihre Wohnsituation und ihre Erwerbstätigkeit befragt werden.

Ein Sturm der Entrüstung war die Folge. Selbst das Bundesverfassungsgericht beschäftigte sich nach einer Klage mit der Volkszählung und bremste mit seinem Urteil die Pläne der Bundesregierung aus. Das höchste Gericht der Republik sprach den Bürgern demnach das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu. Es war geschaffen worden, um die Daten der Bürger zu schützen. Jeder Bürger darf „grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten bestimmen“, hieß es in der Urteilsbegründung. Die eigentliche Volkszählung wurde nicht beanstandet, allerdings die geplante Umsetzung.

Nach den anfänglichen Planungen sollten die erhobenen Daten an die Melderegister zurückgesandt werden, um die Datenbank auf den aktuellsten Stand zu bringen. Darauf wurde nach dem Richterspruch verzichtet, ein neuer organisatorischer Anlauf war die Folge. Der Zensus mußte somit auf das Jahr 1987 verschoben werden und wurde für den 25. Mai neu angesetzt. Die Protestwelle erreichte ihren Höhepunkt, dabei waren die Gegner durchaus kreativ. So schrieb der Spiegel in einer damaligen Ausgabe: „Wozu Boykotteure fähig sind, entdeckten Freitag morgen letzter Woche die Aufseher im Dortmunder Westfalenstadion. Da stand mit weißem Sprühlack auf grünem Rasen zwischen Mittelkreis und Strafraum des Fußballfeldes: ‘Boykottiert und sabotiert die Volkszählung’. Eile war geboten: Am Abend war die Begegnung Borussia gegen HSV angesetzt. Doch alle gärtnerischen Bemühungen scheiterten, die Schrift auf dem Rasen war nicht rechtzeitig zu beseitigen. Da griffen auch die Stadionhüter zur Sprühdose und fälschten eine staatstragende Version: ‘Der Bundespräsident: Boykottiert und sabotiert die Volkszählung nicht’ – so lasen es die Fußballfans am Abend.“

Die Stimmung erhitzte sich ständig. Volkszählungsgegner unterstellten den Mächtigen „faschistische Tendenzen“, CSU-Frontmann Franz Josef Strauß konterte mit einer Beschimpfungsarie: „Dreckspatzen, Ratten und Schmeißfliegen“ waren die Bürgerbewegten für ihn.

Die Bundesregierung gab unterdessen mehrere Millionen Mark für eine großangelegte Werbekampagne mit dem Slogan „10 Minuten, die allen helfen“ aus, die die Bürger vom Sinn des Zensus überzeugen und sie zum Mitmachen ermuntern sollte. Öffentliche Boykott-aufrufe wurden von der Staatsgewalt als Straftat bewertet. Die Polizei führte Razzien durch und beschlagnahmte kritische Druckschriften, die Boykott-Tips gaben.

Die Stimmung in der Bevölkerung war allerdings gespalten: Meinungsumfragen hatten ergeben, daß nur rund die Hälfte die Erfassungsbögen ordnungsgemäß ausfüllen wollte. Die andere Hälfte setzte im Vorfeld auf Sabotage der Befragung. Der Chaos Computer Club (CCC) etwa warnte scheinheilig davor, Kaffee auf den Bögen zu verkleckern, um die Erfassungsrechner nicht zu sabotieren. Keinesfalls dürfe man auch „genau 4,4 Millimeter von der Papierkante“ abschneiden, weil sonst „die Antwortmarkierungen um genau eine Zeile verrutschen“ könnten. Nie in der Geschichte der Bundesrepublik ist ein Boykottaufruf auf so breite Zustimmung gestoßen. Unter den Zensusgegnern fanden sich Grüne und FDP-Mitglieder, Anarchisten und Bürgerliche.

33 Fragen sollten die Einwohner der Bundesrepublik beantworten. Die Fragebögen wurden ab dem 25. Mai persönlich an der Haustür übergeben und sollten 15 Tage später den bundesweit 6.000 Erhebungsstellen ausgefüllt vorliegen. Die Fragen waren in der Regel harmlos und angesichts des heutigen digitalen Zeitalters fast schon lächerlich. Es ging um Wohnsituation, Ausbildung und Beruf sowie die Verkehrsmittelnutzung. Die Befürworter gaben an, sie bräuchten die Antworten als Grundlage für die Sozialplanung – sei es, um Busse an den richtigen Orten einzusetzen oder Wohnungen dort zu bauen, wo man sie benötigt. Doch damals waren dies Fragen, die die Gemüter erhitzten.

In dem Buch „Was Sie gegen Mikrozensus und Volkszählung tun können“, von dem sich bis März 1987 etwa 130.000 Exemplare verkaufen, werden der Obrigkeit dagegen unlautere Absichten unterstellt: „Die Verdatung bildet die materielle Grundlage für eine totale soziale Kontrolle. Wer die Lebensbedingungen eines Menschen genau kennt, für den ist es leichter, sie zu steuern.“ Außerdem warnen die Autoren davor, daß der Zensus ans Licht bringen könnte, „ob Sie vielleicht Ihr Auto bei Verwandten auf dem Land angemeldet haben, weil Sie dafür eine billigere Fahrzeugversicherung bekommen“. Der Spiegel – damals ganz auf seiten der Kritiker – wies darauf hin, daß die Volkszählung eines garantiert liefere: „eine lückenlose, keineswegs anonyme Auflistung sämtlicher westdeutscher Volkszählungsgegner“. Erstmals in der Geschichte der Menschheit werde ein Staat damit „über die perfekte Dissidenten-Kartei verfügen“.

Jahre später schreibt das Nachrichtenmagazin versöhnlich: „Gewinner gab es keine.“ Die Bürgerbewegungen hatten ihre Kämpfe scheinbar verloren, der Staat seinen Bürgern eine autoritäre Fratze gezeigt. Danach herrschte auf beiden Seiten Ernüchterung. „Die Volkszählung, die in dieser Woche auf Touren kommt“, hieß es weitsichtig in der Spiegel-Titelgeschichte vom 18. Mai 1987, „wird die letzte ihrer Art sein.“ Nicht nur das. Weder begehrten danach die Bürger noch einmal in ähnlicher Weise gegen den Staat auf, noch ging der noch einmal so mit seinen Bürgern um. Die Themen der Bewegung aber hatten den Weg in die Parlamente und in die Parteien gefunden.

Was blieb, war eine horrende Rechnung. Kommunen kritisierten die hohen Kosten der Massenbefragung von 630 Millionen Mark – bei ursprünglich errechneten 341 Millionen. Darunter waren jeweils 400 Mark „Ausgleichsgeld“ für rund 500.000 Zähler, die von Haus zu Haus gingen. Nach der Erhebung bewertete das Statistische Bundesamt den Boykott als „Fehlschlag“. Die Quote der Verweigerer lag bei nur etwa einem Prozent. Viel Aufregung um nichts im Endeffekt.

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