© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/12 25. Mai 2012

Ja, sie lebt noch, sie lebt noch!
Thea Dorn und Richard Wagner haben einen exquisiten Reiseführer durch die deutsche Seele vorgelegt
Thorsten Hinz

Totgesagte leben länger. Die deutsche Seele zum Beispiel. Sie hat Niederlage, Umerziehung und die permanente Teufelsaustreibung – auch als Vergangenheitsbewältigung bekannt – zwar nicht unverändert, doch mit Würde überstanden. Glauben die zwei Schriftsteller, die sich aufgemacht haben, sie wiederzuentdecken zwischen Arbeitswut und Ordnungsliebe, zwischen Schrebergarten und Vereinsmeier. Ein paar Dutzend weitere Stichworte haben sie noch aufgelistet, Abendstille etwa, Fußball, Grundgesetz und Weihnachtsmarkt.

Die Autoren tragen bedeutungsvolle Namen: Thea Dorn – ein Pseudonym und Anagramm, gebildet aus Theo(dor) Adorno – und Richard Wagner. „No jokes with names“, lautet eine journalistische Regel, die wir hier verletzen, um den Geist zu kennzeichnen, der dem Buch immanent ist. Adornitischer Intellektualismus und wagnerianischer Romantizismus verbinden sich zu einem ironischen Gestus, der auf- und abklärend, nie aber denunziatorisch wirkt. Wobei Dorn, die studierte Philosophin, in der Regel für Kunst und Philosophie, der aus dem Banat stammende Wagner für Politik und Geschichte zuständig ist.

Schuld an allem ist natürlich das Dritte Reich. In Syberbergs Hitler-Film sinniert der Sprecher im Angesicht einer Hitler-Puppe über das verlorene deutsche Erbe: Alles Erhabene und Schöne habe Hitler verdorben und zerstört! Zerstört auch die Unschuld unserer Abgründe und Dunkelheiten: Deutsche Spezialitäten, deren ästhetische und geistige Potenz die Welt einst verzückte, ehe sie zu Signaturen moralischer und geschichtlicher Verworfenheit verkamen. Oder ist mehr davon geblieben?

Der Abgrund also. Thea Dorn ist ein wunderbar leichthändiger und doch profunder Essay darüber gelungen. Ein Essay über die zerfransende deutsche Seele, die sich vom Diesseits abwendet, ohne im himmlischen Jenseits Ruhe zu finden und die sich deshalb ins Unterirdische, in die Tiefe, in „die unentfremdete, wahre Heimat“ wendet. Von Rübezahl bis Tannhäuser, von Barbarossa bis Faust, von Novalis‘ „Heinrich von Ofterdingen“ bis zum „Bergwerk“-Fragment Franz Fühmanns reichen die Reflexionen. Dorn stellt den Seelenarchäologen Sigmund Freud neben und gegen den Dichter Friedrich Schlegel, der über die Abgründe der Seele schrieb: „Laß ruh‘n die Nacht, reiß nicht ans Licht, was in des Herzens stiller Tiefe heilig blüht.“ Was für geistige Hochspannungen und gegenseitige Herausforderungen barg doch einst das deutsch-jüdische Verhältnis. Die „German Angst“ deuten die Autoren als Reflex auf die gleichsam folgerichtige Unsicherheit eines Landes, dessen Grenzen von keinen natürlichen Befestigungen geschützt waren und dessen Mittellage seine Gegner einlud zur Einkreisung. Inzwischen hätten die Abschreibung der Ostgebiete, die Wiedervereinigung und entschlossene Westbindung die Angst zur Ruhe kommen lassen. Wirklich? So ganz sicher sind die Autoren sich dann doch nicht und fragen: „Was aber, wenn sich das wirtschaftlich zerrissene Eu- ropa als weniger stabiles Gebilde erweisen sollte, als wir es derzeit noch hoffen dürfen?“ Ja, was wohl? Genau darum geht es heute.

Im Wutbürger vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof bestätigt und erneuert sich die alte Liebe zum „Bruder Baum“. Dem eingeborenen Hang zur Gemütlichkeit – ursprünglich eine romantisierende Flucht vor den Zumutungen des Industriezeitalters – hat auch das trauliche Berghof-Ambiente des „Führers“ kein Ende bereiten können. In diesem Kapitel wird der Text erst durch die abgebildeten Fotos vollendet. Auf dem einen präsentiert sich ein Ehepaar im besten Alter in seiner Couchgarnitur vor schauerlicher Schrankwand, gemusterter Tapete und ausgreifender Grünpflanze. Einfache Leute, denen es wichtig ist, ein Haus, „ein Heim zu haben“ und die, um es sich leisten zu können, noch nie in den Urlaub gefahren sind. Was für Wunden mag das Leben ihnen geschlagen haben, daß ihnen ihre Trutzburg so wichtig ist? Das Foto wurde 1980 in Westdeutschland aufgenommen, es könnte aber genausogut aus einem Neubauviertel in Stralsund-Grünhufe oder Jena-Lobeda stammen.

Ein zweites Foto zeigt die nächste Generation, die sich betont unkonventionell gibt. Brille und Rauschebart haben den jungen Mann in einen Waldschrat verwandelt, die unbequeme Hochbettkonstruktion wird von einem Birkenstamm gestützt. Deutscher Wald statt falsches Holzfurnier. Im Bedürfnis nach Gemütlichkeit steht der grünwählende Nachwuchs den Eltern in nichts nach, es äußert sich bloß naturnäher.

Auch Verluste werden besichtigt, darunter das deutsche Pfarrhaus, einst Pflanzstätte des Geistes und der Frömmigkeit und zuletzt in der DDR ein Refugium sowohl der Innerlichkeit als auch der Opposition. Doch die Politisierung der Lutherbibel und die Reform des Sakralen endete im Profanen. Statt Dichter, Denker und Verkünder braucht es heute Verwalter und Funktionäre, Dienstleister und Therapeuten. Dem Pfarrhaus ist seine Seele entflogen.

Unter dem Stichwort „Kulturnation“ schreibt Richard Wagner: „Eine Nation muß die Fähigkeit besitzen, die Bedingungen der Zugehörigkeit zu formulieren. Diese aber gehen über den verfassungsrechtlichen Aspekt hinaus und sind kulturell zu verstehen.“ Das wäre dann wohl die deutsche Leitkultur.

Alles bestens also? Das nun doch nicht. Es fehlt ein Kapitel über den Bombenkrieg, der mehr als alles andere in die Struktur der Städte und in die individuelle und kollektive Psyche eingegriffen hat. Weiterhin vermißt man das Stichwort Inflation, die den Menschen die Entwertung ihrer Arbeit, ihres Vermögens, ihrer Person vor Augen führte. Die Vertreibung und der Verlust der Ostgebiete werden zwar verschiedentlich erwähnt, aber nicht explizit ausgeführt. Ein paar Sätze zum Regietheater als billige Ersatzhandlung hätten ebenfalls gutgetan. Auch das Stichwort „Umerziehung“ fehlt.

Andererseits: Um alle Wünsche zu erfüllen, hätte das Hochglanzbuch noch hundert Seiten dicker sein müssen und würde statt anderthalb gut und gerne zwei Kilo wiegen. Sagen wir also uneingeschränkt ja zu diesem deutschen Hausbuch.

Thea Dorn / Richard Wagner: Die deutsche Seele. Albrecht Knaus Verlag, München 2011, gebunden, 560 Seiten, Abbildungen, 26,99 Euro

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