© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/12 01. Juni 2012

Die Revolution frißt ihre Kinder
Ägypten: Bei den Präsidentschaftswahlen triumphieren ein Moslembruder und ein Mubarak-Getreuer
Marc Zöllner

Mohammed Morsi kann aufatmen. Bis vor einer Woche noch von sämtlichen Umfrageinstituten Ägyptens zu den Verlierern der ersten freien Präsidentschaftswahl in der Geschichte des Landes gezählt, errang der Kandidat der FJP, des politischen Arms der Moslembruderschaft, zwar nicht den erhofften Erdrutschsieg. Mit 24,9 Prozent der Stimmen lag er ersten Auszählungen zufolge jedoch einen halben Prozentpunkt vor dem zweitplazierten Ahmed Shafik, dem letzten Premierminister unter dem früheren Präsidenten Husni Mubarak.

Zur Freude Morsis mußte auch der aus dem islamistischen Lager stammende Rivale, der formell unabhängige Abdel Moneim Aboul Fotouh, deutlich Federn lassen. Der von der salafistischen Al-Nour protegierte, ehemalige Moslembruder galt unter Analysten als wahrscheinlichster Kandidat für die kommende Stichwahl am 16. Juni. Mit 17,8 Prozent vermochte Fotouh es zwar, den Überraschungskandidaten Amr Moussa um sieben Prozentpunkte auszustechen. Den dritten Platz jedoch mußte er seinem linksnationalen Kontrahenten und Nasser-Anhänger, Hamdin Sabahi (Vorsitzender der Partei der Würde), überlassen: Mit 21,1 Prozent der landesweiten Stimmen konnte er Platz drei für sich beanspruchen konnte.

Bis zuletzt erwiesen sich die historischen Präsidentschaftswahlen in Ägypten als spannendes Kopf-an-Kopf-Rennen ohne klaren Ausgang. Überdies offenbarten sie eine tiefe Spaltung in der Seele des Landes am Nil. Denn während in den von der christlichen Minderheit bevorzugt besiedelten Städten im Norden Ägyptens, Alexandria, Suez, Imbaba und auch Teilen von Kairo, die drei Liberalen klare Siege für sich verbuchen konnten, wählte man besonders im verarmten, größtenteils von Landwirtschaft und Fischerei lebenden Süden die Kandidaten der Moslembrüder und Salafisten. Vor Mohammed Morsi steht nun jedoch die recht schwerere Aufgabe, die Anhänger der in der Erstrunde geschlagenen Kandidaten für sich zu gewinnen.

Zumindest die Stimmen der Anhänger Al-Nours dürften dem Moslembruder hierbei sicher sein. Zwar lehnte es deren Kandidat, Aboul Fotouh, am Nachabend der Wahl ebenso wie die geschlagenen liberalen Kräfte ab, zu einem Sondierungsgespräch mit Morsis FJP-Spitze zu erscheinen, aber bereits am nächsten Morgen ließen die Salafisten über Twitter erklären, daß „das Hohe Komitee der Al-Nour-Partei Morsi als Präsidenten für die Republik in der Stichwahl bedingungslos unterstützt“. Eine Anfechtung der Wahl aufgrund der Teilnahme Ahmed Shafiks strebe man trotzdem an, verkündete ein Sprecher der Salafisten gegenüber der ägyptischen Zeitung Al Masry Al Youm.

Die Wahlen anfechten möchte auch Hamdin Sabahi. Der Drittplazierte, Hoffnungsträger der seit Januar 2011 auf dem Tahrir-Platz in Kairo demonstrierenden revolutionären Jugend Ägyptens, hatte bis zuletzt gegen die Möglichkeit einer Kandidatur Ahmed Schafiks geklagt. Trotz eines Gesetzes, das ehemaligen hochrangigen Mubarak-Getreuen die Teilnahme an der Präsidentschaftswahl verbietet, konnte Sabahi Schafiks Kandidatur nicht unterbinden. Der Oberste Rat der Streitkräfte Ägyptens, seit dem Sturz des Diktators de facto dessen Nachfolger, setzte in einer Basta-Entscheidung die Auflistung ihres Wunschkandidaten Schafik durch. Unregelmäßigkeiten während der Wahl boten den Kontrahenten genug Angriffsfläche. „Über 900.000 Wahlkarten“, erklärte Sabahis Kampagnenleitung, seien „vom Innenministerium unrechtmäßig an Soldaten der Armee verteilt worden“, um dem regimetreuen Shafik Stimmen zuzuschanzen. „Im Auftrag Hamdin Sabahis“, so sein Anwalt, „werden wir Beschwerde gegen eine ganze Reihe von Verstößen einreichen, die den Ausgang der ersten Wahlrunde negativ beeinflußten.“ Ob die Klage noch Erfolg verspricht oder lediglich ein letztes Aufbäumen des liberalen Lagers darstellt, bleibt abzuwarten.

Mit den Ergebnissen der Vorwahl konfrontiert, zeigen sich die Bürger Ägyptens zumindest unentschlossener denn je. Im liberalen Lager, der Triebfeder der Revolution gegen Mubarak, weiß niemand so recht, wem er zur Stichwahl seine Stimme widmen soll. Auf der einen Seite findet sich mit Ahmed Schafik ein Mubarak-Intimus, der verspricht, die Revolution im Namen des Volkes weiterzuführen. Doch gerade aufgrund seiner engen Beziehung zur Armee und zum Inlandsgeheimdienst befürchten viele, daß es sich um Lippenbekenntnisse handelt. Einmal an der Macht, könnte er mit Hilfe des ihm treu ergebenen Militärapparates leichter Hand den Schalter wieder umlegen und das alte Regime von neuem installieren.

Demgegenüber verfügt Moslembruder Mohammed Morsi über den größten parlamentarischen Einfluß. Seine Partei hält über 40 Prozent der nationalen Mandate, zusammen mit der Al-Nour-Partei käme er sogar auf eine gute Zweidrittelmehrheit im Parlament. Deren programmatische Ziele wiederum sind bewußt schwammig formuliert: allgemeiner Wohlstand, die Förderung touristischer Projekte und die Beendigung der Diskriminierung christlicher Minderheiten auf der einen; die bedingungslose Einführung der Scharia und der fundamentale religiöse Wandel der ägyptischen Gesellschaft auf der anderen Seite.

Zum fulminanten Ende des mittlerweile sechs Jahrzehnte währenden Mammutkampfes zwischen den Moslembrüdern und der ägyptischen Militärdiktatur ringen nun beide Parteien um den Zuspruch der Liberalen. Jener einst charismatischen Jugendbewegung, die mit den Bildern ihrer Proteste auf dem Tahrir-Platz in Ägypten die Welt ein Jahr in Atem hielt, und die nun zu Recht fürchtet, aufgrund der inneren Zersplitterung von ihrer eigenen Revolution geschluckt zu werden.

Foto: Wütende Ägypter: Die Wahlkommission hatte zehn Bewerber ausgeschlossen, unterlegene Kandidaten beklagen nun massiven Wahlbetrug

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