© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/12 01. Juni 2012

CD: Sibelius
Tönen und Schweigen
Sebastian Hennig

Zum 50. Todestag des großen finnischen Tonsetzers Jean Sibelius im September 2007 begann das schwedische Plattenlabel BIS mit der akustischen Edition seiner sämtlichen Werke. Es wurde wirklich jede verfügbare Note eingespielt und auf 65 Tonträgern in 13 Boxen untergebracht, deren zusammengestellte Rückenansicht den Namen des Meisters in gebieterischen Versalien vor eine finnische Seenlandschaft schreibt. An der gewaltigen Kuppel seines sinfonischen Werkes, niedergelegt in der vorletzten Schachtel, wurde noch ein Wetterfähnchen mit den musikalischen Miszellen angeheftet. Das ehrgeizige Vorhaben ist damit nach genau vier Jahren zum Abschluß gekommen.

Für die Präzision, mit der diese vollständige Retrospektive erfolgt ist, zeugen die Sinfonien auf exemplarische Weise. Es musiziert das Hausorchester der Sibelius-Halle, das Lahti Sinfonieorchester. Auf einer der fünf Platten sind beide Fassungen der fünften Sinfonie zu finden. Persönliche und historische Umbrüche ereigneten sich in dieser Zeit. Etwas übereilt gab er das Werk zur Feier seines 50. Geburtstages frei, um es bald danach zur weiteren Überarbeitung zurückzuziehen. Unterdessen langte der Gerichtsvollzieher nach dem Flügel, der ihm zum Geburtstag verehrt wurde, und später durchstöberten Rotarmisten sein Haus. Die Familie mußte Zuflucht suchen in Helsinki. Derweil ergriff Sibelius mit einen „Marsch der Finnischen Jäger“ unmißverständlich Partei im finnischen Bürgerkrieg.

Unter dem Einfluß dieser Ereignisse reifte die Sinfonie zu ihrer gültigen Form, in der er sie 1919 freigab. 1923 und 1924 folgten die sechste und siebente Sinfonie. Seit der sinfonischen Dichtung „Tapiola“ von 1926 war kein neuer Ton mehr zu vernehmen vom Heros der finnischen Kultur. Über dreißig Jahre, bis zu seinem Tod 1957, beantworte er die gespannte Erwartung der Musikliebhaber mit dem „Schweigen aus Järvenpää“.

Daß die achte Sinfonie weder in Bruchstücken noch als ganzes in der Edition zu finden ist, hat ihr Autor vor siebzig Jahren selbst bewirkt. Bereits 1932 war er der Vollendung schon einmal nahe. Die Uraufführungsdirigenten waren bestellt. Zehn Jahre darauf hielt er dann ein grausiges Gericht. Wäschekörbe voller Notenmanuskripte landeten im Kamin des Speisezimmers. Seine Frau Aino berichtete: „Ganze Sätze der Karelia-Suite gingen dahin … Ich war nicht stark genug, diesen erschreckenden Anblick zu ertragen und verließ das Zimmer. Ich weiß daher nicht, was er alles ins Feuer warf. Hinterher aber war er ruhiger und seine Stimmung hatte sich aufgehellt. Es war eine glückliche Zeit.“

„Schreibe nie eine überflüssige Note; jede einzelne Note muß leben“, äußerte Sibelius kurz nach dem Autodafé. Er selbst benötigte ungezählte Nächte und Unmengen von Whiskey und Zigarren, um seinen Inspirationen das erforderliche Maß an Leben abzuringen. Die letzte Platte enthält fünfzig Minuten lang Bruchstücke und verworfene Varianten einzelner Takte: Weltersteinspielungen aus den Manuskripten des Sibelius Museums Turku und der Nationalbibliothek Helsinki. Diese kurzen Stücke machen deutlich, wie mühsam und voller ästhetischer Skrupel Sibelius seine klanglichen Ideale aus den spontanen Eingebungen herausschälte.

Sibelius-Edition Vol. 12: Sinfonien Bis (Klassik Center Kassel), 2011  www.sonymusic.de

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