© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/12 01. Juni 2012

Normalisierte Absurdität
Vor 40 Jahren trat das Transit-Abkommen im Berlin-Verkehr in Kraft / Reiseerleichterungen im Gegenzug für die „Neue Ostpolitik“
Detlef Kühn

Ältere ehemalige West-Berliner und viele damalige Besucher aus dem Westen können sich noch gut erinnern: Reisen von oder nach Berlin mit Auto oder Omnibus waren ein unkalkulierbares Abenteuer mit häufig unangenehmen Überraschungen auf den Transitstrecken – Schikanen der Grenzbeamten und Polizisten der DDR inklusive.

West-Berlin war praktisch bis 1972 abgeschnürt

Sollte mal wieder Druck auf die West-Berliner und ihre Politiker ausgeübt werden, standen die Verkehrsampeln manchmal stundenlang auf Rot. Wer den Kontrolleuren irgendwie auffiel, wurde aus dem Verkehrsfluß herausgewinkt und intensiven Kontrollen unterzogen. Erhebliche Geldstrafen bei geringfügigen Anlässen waren die Regel. Für die Strecke von Zehlendorf bis Helmstedt – etwa 150 Kilometer – brauchte man mindestens vier Stunden, und eine Straßenbenutzungsgebühr kostete es auch noch. Wer dies alles überstanden hatte, stürzte gleich hinter der Grenze „im Westen“ in Telefonzellen, um den besorgten Lieben daheim zu melden: „Ich bin durch! Alles in Ordnung!“

Dieser Zustand dauerte von 1949, dem Ende der Blockade West-Berlins, bis zum Abschluß des Transit-Abkommens, das vor vierzig Jahren, am 4. Juni 1972, in Kraft trat. Er trug entscheidend dazu bei, daß West-Berlin, besonders nach dem Bau der Mauer 1961, nicht mehr mit der Entwicklung in Westdeutschland mithalten konnte und erheblicher Subventionen bedurfte. Der für Deutsche völlig ungeregelte Transitverkehr mit der „Insel“ war auch ein schwerer Standortnachteil für West-Berlin.

Der seit 1969 amtierenden Bundesregierung Brandt/Scheel und den Politikern der sie tragenden Parteien SPD und FDP, die sich anschickten, im Zuge der „Neuen Ostpolitik“ eine faktische, nichtvölkerrechtliche Anerkennung der DDR vorzubereiten, war klar, daß sie diese höchst umstrittene Politik ihren Wählern nur dann vermitteln konnten, wenn damit erhebliche Verbesserungen für die Bevölkerung verbunden waren. Solche mußten vor allem in Berlin erreicht werden, wo die bloße Existenz West-Berlins von Sowjetunion und SED-Führung als Pfahl im Fleisch empfunden wurde, was immer wieder dazu reizte, das diesbezügliche Erpressungspotential zu erproben. Dem galt es nun, für die Zukunft einen Riegel vorzuschieben. Dabei mußten die Besatzungsrechte der vier Siegermächte in Berlin ebenso beachtet werden wie die Tatsache, daß West-Berlin formal nicht zur Bundesrepublik gehörte und von ihr nicht regiert werden durfte.

Die Regierung Brandt/Scheel hat, in Absprache mit den drei Westmächten, seit Anfang 1970 bei Gesprächen mit Politikern aus DDR und Sowjetunion klargestellt, daß sie Konzessionen bei der Anerkennung der DDR, etwa im Grundlagenvertrag oder beim Gewaltverzicht, an dem die Sowjetunion interessiert war, abhängig machte von erheblichen Fortschritten bei den Vier-Mächte-Gesprächen über Berlin, an denen sie zwar offiziell nicht beteiligt war, aber dennoch (im Westen) ein entscheidendes Wort mitzureden hatte. Parallel zu den Vier-Mächte-Verhandlungen wurden die Gespräche zur Vorbereitung des „Vertrages über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR“ geführt. Alles hing mit allem zusammen; alles war schwierig, die Gefahr des Scheiterns immer präsent.

Am 3. September 1971 konnte in Berlin das Abkommen unterzeichnet werden, das den Durchbruch brachte. Danach schmetterte der sowjetische Botschafter Abrassimow sein berühmtes „Ende gutt, alles gutt“ in die Mikrofone des Fernsehens. Der Vertrag enthielt die  Vorgaben für das Transit-Abkommen, das die Regierungen in Bonn und Ost-Berlin abzuschließen hatten, was am 17. Dezember geschah. Nach einem Viermächte-Schlußprotokoll vom 3. Juni 1972 konnten die neuen, wesentlich verbesserten Regelungen im Transitverkehr in Kraft treten. Man brauchte die Autos nicht mehr zu verlassen; die Kontrolle beschränkte sich auf die Personalpapiere. Gepäck oder Ladungen wurden im Regelfall nicht mehr kontrolliert. Der Zeitgewinn war enorm.

Kaum noch Behinderungen beim Transitverkehr

Politisch und menschlich wichtig waren auch Erleichterungen für West-Berliner bei Besuchen in der DDR, die die bisherigen Benachteiligungen gegenüber Westdeutschen aufhoben. Jetzt konnten die Bewohner der „Insel“ das Umland wieder besuchen. West-Berlin wurde für Zuzügler aus dem Westen attraktiv, und zwart nicht nur für Flüchtlinge, die der Wehrpflicht entgehen wollten. Die Verhältnisse „normalisierten“ sich rasch und so gründlich, daß manche Politiker glaubten, nun könne man doch eigentlich auf die Wiedervereinigung verzichten. Diesem Irrglauben haben erst 17 Jahre später die Deutschen im Osten erfolgreich ein Ende bereitet.

 

Detlef Kühn war von 1972 bis 1991 Präsident des Gesamtdeutschen Instituts in Bonn.

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