© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/12 08. Juni 2012

Mely Kiyak über Thilo Sarrazin
Ungestraft alles rauslassen
Rolf Dressler

Es geschah buchstäblich unter den Augen der Hitlerschen Diktatur. In einer Predigt geißelte der unbeugsame Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen das NS-Terrorregime dafür, daß es Millionen junger Menschen die Zwangsmitgliedschaft in den NS-Jugendorganisationen abverlangt, um sie dem Einfluß von Elternhaus und Kirche zu entziehen und mit der braunen Ideologie zu infiltrieren. Gestapo-Spitzel verfolgten jeden öffentlichen Auftritt des unbotmäßigen Mannes auf der Kanzel. Wutentbrannt rief einer dieser NS-Schergen mitten hinein in jene denkwürdige Predigt: „Wie kann jemand, der weder Frau noch Kinder hat, es wagen, sich über Fragen der Kindererziehung zu äußern?“ Darauf der Bischof grandios schlagfertig: „Ich verbitte mir abschätzige Bemerkungen über den Führer.“

Welch eine Unerschrockenheit, welch ein beinahe tollkühner Mut sprachen aus einer solchen Erwiderung in dunkelster Zeit! Heute, anno 2012, darf jede(r) praktisch ungestraft alles rauslassen, ja ausspucken, was ihm/ihr gegen Andersdenkende in den ätzend wirren Sinn kommt.

Wie unlängst – zum Beispiel – die sogar schon journalistenpreisgekrönte Publizistin Mely Kiyak. In Frankfurter Rundschau und Berliner Zeitung verteufelte sie den früheren Bundesbankvorstand, Berliner Finanzsenator und jetzigen Buchautor Thilo Sarrazin als „lispelnde, stotternde, zuckende Menschenkarikatur“. Doch was natürlich auch im Falle Kiyak reflexartig zu einem „Ausrutscher“, zu einer lediglich „unglücklichen Randbemerkung“ heruntergespielt wird, hat längst erbärmliche Tradition hierzulande.

In einem TV-Beitrag über entstellte Menschen meinte die RTL-Moderatorin Birgit Schrowange einmal: „Es gibt Menschen, die sind so häßlich, daß sie froh sein können, sich selber nie auf der Straße zu begegnen.“ Und nachgerade mit Schaum vor dem Mund höhnte die nur scheinbar ach so liberale Süddeutsche Zeitung über den ZDF-Redakteur und Theologen Peter Hahne: „Mit seinem Breitmaul-Gesicht grinst er, fletsch, schnapp, alles nieder, Kriege, Hungersnöte, Massenkatastrophen, über jegliches rutscht er mit der Bibel in der Faust hinweg, in der gnadenlosen Gewißheit, daß noch das Grausigste vor oder von oder in Gott wohlgetan ist.“

Das schier Unerträgliche ist in der Welt – und wird es leider bleiben.

 

Rolf Dressler war langjähriger Chefredakteur beim „West­falen-Blatt“ in Bielefeld und ist nun freier Journalist.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen