© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/12 08. Juni 2012

Nach ihm war alles anders
Mehr als eine Lebensbeschreibung: Der Musikwissenschaftler und Dirigent Jan Caeyers hat eine lesenswerte Beethoven-Biographie vorgelegt
Wiebke Dethlefs

Eine neue Beethoven-Biographie? Ist das nötig? wird sich mancher verwundert fragen. Aufregend Neues, das aufhorchen ließe, werde sich über den musikalischen „Titanen“ der Wiener Klassik doch kaum noch herausfinden lassen. Zu sehr ist sein Leben erforscht, in so vielen erstrangigen Publikationen minutiös analysiert, sein Schaffen gedeutet. Erinnert sei unter anderem an die Werke des US-amerikanischen Musikwissenschaftlers Maynard Solomon oder die frühe, bis heute nahezu unerreichte Darstellung von Adolf Bernhard Marx (1859; Nachdruck 1979). Doch (ähnlich wie bei Richard Wagner) faszinieren Mensch und Werk auch heute in ganz außerordentlicher Weise. Die vielen Facetten des Lebens und Schaffens des Künstlers Beethoven lassen sich in jeder Generation aus ihr heraus neu beleuchten.

So ist die kürzlich erschienene, satte 832 umfassende Biographie Beethovens von Jan Caeyers eine sehr willkommene Ergänzung des Beethoven-Schrifttums. In Belgien und den Niederlanden schaffte es der gebürtige Flame damit sogar auf die Bestsellerlisten. Der langjährige künstlerische Leiter der Beethoven Academie ist nicht nur Autor, sondern auch Dirigent und Universitätsprofessor. In dieser Mehrfachfunktion gelang ihm eine höchst ansprechende, unverbrauchte Mischung aus einer teilweise fast romanhaften Lebensdarstellung, ausgedehnten kulturhistorischen Schilderungen des Umfeldes des Komponisten und – was besonders musikalische Laien erfreuen mag – eingängige und doch eingehende Erläuterungen der wichtigsten Werke Beethovens (fast ohne Notenbeispiele). In ihnen herrscht nicht der trockene, unpersönliche Ton der Analysen beispielsweise der neuesten Auflage von Reclams Konzertführer vor, sondern die Begeisterung des Musikers Caeyer (seit 2010 leitet er das Orchester Le Concert Olympique) an Beethovens Werken – eine Begeisterung, die der Autor unbedingt auf seine Leser übertragen will.

„Nach ihm war nämlich alles anders als vor seiner Zeit“, schreibt Caeyer in seinem „Prolog“. „Der Komponist war nicht mehr selbstverständlich auch Ausführender seiner Musik; der Notentext ließ dem ausführenden Musiker nur noch relativ wenig Spielraum, seine Fantasie hatte sich weniger improvisierend als interpretierend zu betätigen; Komposition wurde zu einer musikalischen Disziplin für sich, mit hohen ethischen und ästhetischen Ansprüchen; die Musik wurde komplexer und mit einem besonderen Ideengehalt aufgeladen, was dem Publikum eine andere Hörweise abverlangte (…) Kurz und gut: Der Komponist hatte sich vom Handwerker zum Künstler entwickelt.“

In dieser Form ist die Beethoven-Biographie Caeyers tatsächlich eine Novität. In der emotionsgeladenen Darstellung von Beethovens Leben fühlt man sich an die großen Biographien Stefan Zweigs erinnert. Hier wie dort geht es um die Schilderung der Seelenregungen des Protagonisten. Das geschieht so überzeugend, so emotional anrührend, daß man fast vermutet, daß der Autor und Beethoven Zwillinge im Geist sind – ganz unglaubwürdig wäre es bei dem Dirigenten Caeyers nicht.

Caeyers bringt Beethovens Seelenspannungen in einen überzeugenden Kontext zu den in der jeweiligen Epoche entstandenen Kompositionen. Denn Beethoven war in allen seinen Werken Bekenntnismusiker, ganz anders als beispielsweise Weber oder Wagner, die als „darstellende“ Künstler – ohnehin mehr dem Bühnenschaffen zugetan – fast nie ihr Innenleben in ihren Werken aufflammen ließen. Folgerichtig gibt Caeyers damit auch der Darstellung von Beethovens zahlreichen Gesundheitsproblemen Raum – seine meist tabuisierte Alkoholabhängigkeit eingeschlossen.

Sprachlich läßt Caeyers voller würzender (Selbst-)Ironie hie und da einige zeitgeistgeprägte Anglizismen einfließen, wenn er beispielsweise Beethoven den „composer in residence“ des Theaters an der Wien nennt, oder das Wiener Stadtpalais des Fürsten Lobkowitz (wo über Stipendien junge Talente bei herausragenden Musikern lernen konnten) als „centre of excellence“ bezeichnet.

Von besonderem Reiz sind die breiten Exkurse des Buchs. Das erste dieser Kapitel beschäftigt sich mit dem Wien des Jahres 1792 (in diesem Jahr ließ sich Beethoven in Wien nieder) und bietet ein lebendiges, kulturhistorisches Zeitbild. In einem weiteren dieser essayistischen Buchabschnitte vermerkt man des Autors großes eigenes Interesse an der Klärung der Frage um die mysteriöse „unsterbliche Geliebte“ Beethovens.

Von ganz anderem Gehalt ist der elfseitige, dennoch sehr kurzweilige Essay über die Klavierbaukunst der Zeit und Beethovens Versuche, bei den Klavierbaufirmen persönlich Verbesserungen beim Instrumentenklang durchzusetzen. Köstlich sind die humorigen Schilderungen des Wiener Kongresses, seiner „VIP-Besucher“ sowie der restaurativen Zeit danach – übrigens sind die Jahre zwischen 1814 und 1817 Beethovens wenigst fruchtbare. Grund dafür ist nach Caeyers nicht die Restauration (wie es die Sicht vieler Autoren des vormaligen sozialistischen Lagers war), sondern ganz banal ein nicht auszukurierendes Lungenleiden.

Gerade diese Einschübe sind es, die das Buch so attraktiv machen. Indem Beethovens Werke in ihrem Gehalt direkt mit Physis und Psyche des Autors zur jeweiligen Zeit verknüpft werden und wiederum die Gestalt des Komponisten in die politische und gesellschaftlich-kulturelle Situation seiner Epoche verwoben wird, entsteht ein herausragendes, fast ganzheitlich zu nennendes Werk. Eine Biographie, die in dieser Form nicht umsonst zum Bestseller reüssieren konnte.

Den wahrscheinlich etwas herablassend urteilenden Musikwissenschaftlern wird Caeyers mit großer innerer Anteilnahme und Herzblut geschriebenes Werk sicherlich zu trivial erscheinen; um so mehr wird eine gebildete Leserschaft diese Biographie schätzen. Es ist zu wünschen, daß das Werk auch in Deutschland solch einen Absatz findet wie in Belgien und den Niederlanden. Denn es ist ein außergewöhnlicher Lesegenuß, für den auch dem Übersetzer Dank gezollt werden muß.

Im September und Oktober dieses Jahres ist Jan Caeyers zu einem Vortrag beziehungsweise einer Lesung in Deutschland. Nähere Informationen im Internet unter www.chbeck.de

Jan Caeyers: Beethoven. Der einsame Revolutionär. Eine Biographie. C.H. Beck, München 2012, gebunden, 832 Seiten, 29,95 Euro

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