© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/12 08. Juni 2012

Europa in der Existenzkrise
Vorbild Schweiz
Patrick Eichenberger

Mein Gedanke war, die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sagen zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte.“ Otto von Bismarcks Idee eines staatlich verordneten Sozialversicherungssystems war zwar revolutionär, doch waren die Leistungen im deutschen Kaiserreich anfänglich noch sehr bescheiden. Beispielsweise war die erste Altersversicherung nur als Ergänzungsleistung konzipiert und griff erst ab dem 70. Lebensjahr, und dies obwohl die mittlere Lebenserwartung damals nur 47 Jahre betrug.

Seit dieser Pionierzeit der Sozialversicherungen wurden sukzessive in allen entwickelten Ländern Sozialversicherungssysteme eingeführt, auch wenn diese zweifellos unterschiedlich angegliedert, finanziert, organisiert waren und sehr verschiedene Leistungen erbrachten. Selbst in der EU sind wir von einer Synchronisierung der Sozialversicherungen weit entfernt. Die Gemeinsamkeiten der europäischen Sozialversicherungswerke beschränken sich auf zwei Dinge: sie müssen stets mehr ausgeben als sie einnehmen, und ihre Bedeutung steigt gemessen am jeweiligen Bruttoinlandsprodukt (BIP) kontinuierlich an.

Nahmen in Deutschland 1960 die Sozialleistungen insgesamt 16 Prozent des BIP in Anspruch, so sind es heute deutlich über 30 Prozent. 1840 verhungerte eine Vielzahl von Familien arbeitender Weber, obwohl diese mehr als zehn Stunden an sechs Tagen pro Woche arbeiteten. Heute verhungern weder die Empörten in Griechenland, Spanien, Portugal und Großbritannien noch die Vertreter der Occupy-Szene, die wohlgenährt, gut gekleidet und noch besser elektronisch vernetzt sind.

Das lautstarke Einfordern von Umverteilungsrenten ist in der EU zu einem Geschäft verkommen. Ein wachsender Anteil der Bevölkerung rutscht zur Kategorie der nimmersatten Nettoempfänger ab. Auch Migranten fordern immer selbstbewußter „Schweigegelder“ von ihren europäischen Gastgeberländern, verbunden mit einer Anpassung der Gesetze an die mitgebrachten Heimatbräuche. Die Ära der europäischen Wohlfahrtsgemeinschaft neigt sich ihrem Ende zu.

Im Westen wurde über die Jahrhunderte das Modell vom Wohlstand infolge von Ausbeutung und Eroberung durch das gegenwärtige Modell von Wohlstand auf Pump abgelöst. In Asien dagegen wächst der neu erschlossene Wohlstand aus Leistung kontinuierlich an. Asiens anhaltende Wachstumsdynamik und die lähmende Überschuldung des Westens stehen deshalb Pate für die Ablösung zweier unterschiedlicher Ordnungsmodelle.

Die westlich-liberale Wohlstandsgesellschaft wird vom asiatisch-autoritären Leistungskapitalismus überrollt. Daß beispielsweise der amerikanische Computerhersteller Apple bei niedrigen Lohnkosten in China produzieren läßt, hat der Nachfrage nach Elektronikgeräten im Westen wenig geschadet. Niemand stört sich daran, daß chinesische, vietnamesische, indische und andere Billig-Arbeitskräfte fernab von Europa ausgebeutet werden, damit wir im Namen des freien Wettbewerbs und der globalisierten Wirtschaft unser materielles Wohlstandsniveau weiter ausbauen können.

Peinlich wird es dann, wenn ausgerechnet Europa als ehemalige Kolonialmacht denselben Ländern das Zeichnen von Euro-Anleihen schmackhaft machen willl, die es zuvor selbst schon einmal ausgebeutet hat. Offenbar ist jede Vorgehensweise geeignet, solange das hoffnungslos verschuldete Wohlstandssystem Europas länger am Leben erhalten werden kann. Wenn ein Kontinent wie Europa für Sozialleistungen alleine das 7- bis 30fache von dem ausgibt, was chinesische Arbeiter durchschnittlich verdienen, dann sollten wir uns nicht wundern, daß wir mit der Verteuerung der Arbeit und dem Ausbau von Sozialleistungen in vielen Branchen jegliche Chance auf die eigene Wettbewerbsfähigkeit längst verspielt haben. Oswald Spengler prophezeite dem Westen bereits 1931 in „Der Mensch und die Technik“, daß mit der Erschließung von asiatischen Absatzmärkten ein Know-how- und Technologietransfer dorthin einhergehen wird.

Es hat wenig Sinn, weltweit ein uneingeschränktes Marktwirtschaftssystem zu predigen, wenn auf die Folgen dieser globalisierten Weltwirtschaft je nach Region so unterschiedlich reagiert wird. Das Einhalten immer neuer EU-Verwaltungsauflagen oder wachsender Sozialleistungspflichten schlägt sich in Europa als erheblicher Kostentreiber nieder. Ganze Branchen werden seit Jahrzehnten aus Europa in Richtung Osten verdrängt, weil Unternehmerrenditen im alten Kontinent sinken und Rentabilitätsaussichten künftiger Investitionsvorhaben im Westen wegen hoher Lohnstückkosten bei bescheidener Produktivität weiter abnehmen.

Glaubten Frankreich und Deutschland beispielsweise, sie könnten ihre TGV- und ICE-Züge nach China exportieren, so ist die China South Locomotive Rolling Stock Corporation mittlerweile selbst in der Lage, teils bessere und jedenfalls günstigere Hochgeschwindigkeitszüge zu bauen und diese schon bald auch zu exportieren. Anderes Beispiel: Die jüngste Pleitewelle in der Solarenergiebranche Deutschlands belegt die Unfähigkeit, mit Subventionen Arbeitsplätze zu sichern. Trotz aller gut gemeinten Subventionen setzen sich Solarmodulehersteller aus China durch, wo Arbeitssicherheit, Ökologie und soziale Auffangnetze faktisch auf das Minimum beschränkt werden.

In Europa, wo eine wachsende Staatsquote jenseits der 50-Prozent-Marke Sozialismus und einen Moloch an Bürokratie ahnen läßt, wird gegenwärtig an einer neuen Umverteilungswelle gearbeitet, die schon bald in eine Hexenjagd auf die verbleibenden Eliten, Reichen und letzten Unternehmer Europas einmünden dürfte. Denn die staatlich umworbene Wählerschaft verhält sich vor Wahlterminen wie in vorweihnachtlicher Erwartung, in der immer länger werdende Geschenkelisten die anvisierte Wählergunst anwachsen lassen. Der Überbringer schlechter Nachrichten wird dagegen abgestraft.

Tatsächlich läuft alles auf eine harte Landung hinaus, wenn der Teufelskreis aus Verschuldung und immer neuen Wahlgeschenken nicht durchbrochen wird. Als Beispiel kann die Pleite Argentiniens herangezogen werden, wo alles mit einer starken Rezession 1998/1999 begann. Generalstreiks und gewalttätige Demonstrationen mit Dutzenden von Toten waren die Folge, bevor das Finanzsystem schließlich 2001/2002 kollabierte. Mitte 2002 – am Höhepunkt der Krise – stieg die Armutsquote auf 57 Prozent, die Arbeitslosenquote kletterte auf 23 Prozent, nachdem das BIP innerhalb dreier Jahre um 21 Prozent geschrumpft war.

In Argentinien konnte die Krise jedoch deshalb schnell durchschritten werden, weil mit der Roßkur eine erhebliche Absenkung der Reallöhne verbunden war. Dieser Umstand dürfte angesichts starker Gewerkschaften und der Dominanz linker Umverteilungsfreunde in der EU nicht erwartet werden. Daher wird die Krise in Europa viel länger andauern, bis schließlich die Schuldenwirtschaft in sich zusammenbrechen wird. Aus der Krise der europäischen Wohlfahrtsdemokratien führen letztlich drei denkbare Wege:

1. Schuldenabbau mittels einer drakonischen Austeritätspolitik und einer Rückführung des Staatswesens auf ein absolutes Minimum (Nachtwächterstaat). Diese Option ist politisch unrealistisch und würde darüber hinaus die Wirtschaft nachfrageseitig abwürgen.

2. Abkehr vom naiven Glauben an den Gesamtnutzen einer globalisierten Weltwirtschaft, solange die Lohnunterschiede um Faktoren von fünf bis zehn zwischen wichtigen Weltwirtschaftsregionen divergieren und einheitliche Standards in puncto Sicherheit, Umweltverträglichkeit und Sozialleistungssysteme in weiter Ferne liegen. Zölle könnten dagegen weitere Jobverluste verhindern und einen Teil der Wohlfahrtskosten decken helfen, bis die Niedriglohnregionen sich auf relativ vergleichbare Lohn-, Preis- und Sozialversicherungsniveaus entwickelt haben.

3. Die Wohlfahrtssysteme werden zurückgefahren, bis die Ausgaben auch langfristig durch Einnahmen gedeckt werden können. Statt dessen wird auf Jahre die Gratwanderung weiter unternommen, mittels lockerer Geldpolitik und der Inkaufnahme überhöhter Inflation das gemeinschaftliche Wohlstandsniveau möglichst zu halten und die negativen Folgekosten geräuschlos den Sparern und Rentnern sozialverträglich zuzuschieben. Die Wettbewerbsfähigkeit kann dabei höchstens punktuell noch gewahrt werden. Massenarbeitslosigkeit ist die Regel, bis die rückläufigen Bevölkerungszahlen korrigierend zu wirken beginnen.

Solange an den Formen repräsentativer Demokratie mit ihren Vier- oder Fünf-Jahres-Horizonten festgehalten wird, kann es keine gewählte Regierung schaffen, einen eigenverantwortlichen Weg der Gesundung oder der Sanierung zu gehen. Auch Deutschland nicht. Gibt es zur Herrschaft europäischer Politiker-Eliten und ihren temporären „Experten-Regierungen“ eine Alternative? Ein Blick weg von der EU, aber mitten ins Kernland Europas läßt einen stillen Klassenbesten erkennen, der regelmäßig vorgeführt und von immer neuen EU-Forderungen erpreßt wird: die Schweiz.

Hatte sie nicht bis 1848 die gleiche Staatsform wie die heutige EU, nämlich die eines Staatenverbundes? Haben die Schweizer damals nicht erfolgreich den Wandel zum Bundesstaat geschafft, was Eurokraten heute ebenfalls verwirklichen möchten? Könnte da nicht die EU angesichts der weltweiten Wettbewerbsposition Nr. 1 (WEF-Studie) der Schweiz interessiert sein, wenigstens einen Blick auf die Ingredienzen des Erfolgsrezeptes der Confoederatio Helvetica (CH) zu werfen?

Die Alpenrepublik verfügt wie die EU weder über Öl noch über nennenswerte Rohstoffe. Dennoch hat sie pro Kopf weniger Schulden als die EU, die einzig greifende Schuldenbremse, ausgeglichene Haushaltsbudgets, eine gut finanzierte Altersvorsorge, eine funktionierende Krankenversicherung, weniger, aber effizientere Beamte, eine niedrigere Staatsquote, eine niedrigere Steuerbelastung, eine viel niedrigere Arbeitslosigkeit, einen besonderen Umgang mit Minderheiten, ein ordentliches Bildungswesen, ein gutes Straßennetz und eine noch bessere Erschließung durch den öffentlichen Verkehr. Und die Schweiz kennt praktisch keine Subventionskultur.

Warum muß die Schweiz seit Jahren als Prügelknabe der EU herhalten? Ihr Erfolgsrezept heißt direkte Demokratie und Milizparlament. Auch hier hat die Mehrheit recht. Allerdings ist die Mehrheit in einer direkten Demokratie mehr eigenverantwortlich als in indirekten Demokratien, was sich beides in der langen Historie von Abstimmungsvorlagen der Eidgenossenschaft belegen läßt. Milizparlamentarier gehen neben ihrer Abgeordnetenfunktion einer regulären Arbeit nach und haben mehr Bürgernähe als Berufspolitiker in repräsentativen Demokratien, die in wesentlichen Fragen über die Köpfe der Staatsbürger hinweg entscheiden und deren Zustimmung hinterher mit Daueralimentation erkaufen. Kann die EU also doch etwas von der Schweiz lernen?

 

Prof. Dr. Patrick Eichenberger, Jahrgang 1963, hat an der Uni Sankt Gallen Betriebswirtschaftslehre studiert und ist Verwaltungsrat eines Marktforschungsunternehmens in Zug. Er lehrt an der Hochschule für Wirtschaft Zürich (HWZ).

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