© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/12 08. Juni 2012

Der deutsche Staat als unfähiger Vormund
Der Journalist Rainer Hank hat eine bemerkenswerte Analyse unseres „Pleitestaates“ mit seinen Verteilungskoalitionen vorgelegt
Manfred Kleine-Hartlage

Was gute und was schlechte Politik ist, darüber gehen die Meinungen bekanntlich weit auseinander, und es scheint lediglich eine Frage des ideologischen Standorts zu sein: Des einen Gerechtigkeit ist des anderen Gleichmacherei, des einen innere Sicherheit ist des anderen Überwachungsstaat, des einen Eigenverantwortung des anderen soziale Kälte. Was gute Politik ist, scheint daher politische Geschmackssache zu sein, und über Geschmack läßt sich bekanntlich nicht streiten.

Dabei gibt es sehr wohl objektive und ohne weiteres einleuchtende Kriterien zwar nicht für gute, wohl aber für schlechte Politik: Schlecht ist eine Politik, die an ihren eigenen Zielen und Ansprüchen scheitert, und eine, durch deren Verfolgung die Gesellschaft den Ast absägt, auf dem sie sitzt. Gemessen an diesen Kriterien ist die Bundesrepublik ein geradezu erschütternd schlecht regierter Staat: ein Staat, der mit enormem finanziellen Aufwand die Marktergebnisse korrigiert, ohne die damit erstrebte Gerechtigkeit zu erreichen, dabei aber seine frühere Liberalität preisgibt und sich obendrein in eine Verschuldungsspirale begeben hat, aus der es ein Entrinnen nur um den Preis des Systemzusammenbruchs geben wird.

Rainer Hank, Leiter der Wirtschaftsredaktion der FAS, zeigt in „Die Pleite-Republik“ auf, daß und warum dies so ist: Ein Staat, der der Urteilsfähigkeit des einzelnen mißtraut, wird zur paternalistischen Bevormundung neigen, und, da die Menschen sich an diese Bevormundung gewöhnen und ihr Verhalten danach einrichten, in seinem Mißtrauen bestätigt werden, das seine Eingriffe ebenso legitimiert wie es ihre ständige Ausweitung befeuert.

Ein Staat, der dem Markt mißtraut – wofür es manche guten und viele schlechte Gründe gibt –, muß dem Bürger in die rechte Tasche greifen, um dessen linke Tasche zu füllen. Der Nutzen für den Bürger ist nicht etwa null, sondern negativ, auch wenn der Staat jeden Cent zurückfließen läßt, der ideelle Gesamtbürger also theoretisch keinen Verlust erleidet: Der reale Bürger, das Individuum, gerät in Abhängigkeit vom Staat und seinen Leistungen. Er nimmt nicht nur hin, daß der Staat sein Geld konfisziert, er wird sich auch jeder Leistungskürzung widersetzen, sofern sie ihn bzw. seine Interessengruppe selbst trifft.

Parlamentarische Mehrheiten sind unter diesen Umständen Verteilungskoalitionen zur Ausweitung von Staatsausgaben und zur Kürzungsverhinderung, ganz unabhängig davon, wer regiert. „Wohltaten“, die der Staat einmal ausgeteilt hat, werden kaum wieder eingesammelt, und wenn, treten andere an ihre Stelle. Wenn alle ein größeres Stück vom Kuchen wollen, niemand aber gezwungen werden kann, eine Verkleinerung seines Anteils zu akzeptieren, ist der Ausweg die Verschuldung: Man läßt die zahlen, die man nicht zu fragen braucht und auch nicht fragen kann, weil sie noch nicht geboren sind.

Die finanzielle Selbstüberforderung des Staates tritt ein, weil und soweit die Gesellschaft so organisiert ist, daß alle Beteiligten darauf spekulieren können, ein anderer werde die Rechnung für das eigene Fehlverhalten begleichen. Das gilt für Banken, die faule Kredite im Vertrauen auf ihre eigene „Systemrelevanz“ vergeben und am Ende den Steuerzahler zur Kasse bitten, es gilt für EU-Staaten, die mit der Währungsunion ermuntert worden sind, sich hemmungslos zu verschulden, weil die Union, also letztlich Deutschland, die Zeche bezahlt und solide Finanzpolitik daher ganz dumm wäre, weil sie einen zum Zahler statt zum Empfänger machen würde, es gilt für Bundesländer, die es sich im Länderfinanzausgleich bequem machen, für Hartz-IV-Empfänger, für die Arbeit sich einfach nicht lohnt, und die Liste ließe sich ad infinitum fortsetzen. „Solidarität“ ist in einem solchen System kaum mehr als eine Phrase, die den Griff in fremde Taschen legitimiert.

Abhilfe schaffen könnte ein System der strikten Eigenverantworung auf allen Ebenen und Gebieten. Im Zusammenhang mit der Euro-Krise hieße das zum Beispiel, den Euro abzuschaffen – dazu würde bereits genügen, daß Deutschland ihn abschafft – und die Währungssouveränität den Nationalstaaten zurückzugeben. Im Inland geht es um ein drastisches Zurückstutzen des Sozialstaats (der ohnehin weniger den Armen auf Kosten der Reichen als der unteren Mittelschicht auf Kosten der oberen hilft), um die Abschaffung von Gemeinschaftssteuern und -aufgaben von Bund und Ländern und um eine Stärkung des Föderalismus.

Das Lob der kleineren Einheit gehört zu den stärksten Passagen des Buches. Man könnte es in dem Satz zusammenfassen: Je kleiner die eigenverantwortlich handelnde Einheit, desto geringer die Chance, einen Dummen zu finden, der die Rechnung für Fehlentscheidungen begleicht, und desto größer der Anreiz zu vernünftigem Wirtschaften.

Die Frage, wie man dorthin kommen will, steht freilich auf einem anderen Blatt. Wenn Hanks Analyse richtig ist, dann wird es keinen systemkonformen Weg geben, und die von ihm vorgeschlagenen Lösungen sind entweder charmant, aber illusorisch (etwa autonome „Charter Cities“ als Neuauflage mittelalterlicher Stadtstaaten) oder tragen wenig zur Lösung des Grundproblems bei (etwa mehr direkte Demokratie) oder scheitern (wie die drastische Steuervereinfachung) seit Jahren an genau den systemischen Mängeln, die Hank so klug analysiert. Im Grunde illustrieren sie mehr die Trostlosigkeit der Lage, als realistische Auswege zu weisen.

Dies sei dem Autor nicht vorgeworfen, es läßt den Leser nur ein wenig ratlos zurück; auch daß sein Vertrauen in den Markt bisweilen ein wenig naiv wirkt und seine Sozialstaatskritik entsprechend apodiktisch daherkommt, sei als notwendige Zuspitzung akzeptiert. Kritisch anzumerken ist allerdings, daß sein Buch mit über 400 Seiten zu lang geraten ist. Raffung, Verdichtung und Pointierung hätten der allzu gemütlich dahinplätschernden Argumentation gutgetan. Für ein Buch, das vom Marsch in den Abgrund handelt, ist es in einem zu gefälligen Stil geschrieben.

Rainer Hank: Die Pleite-Republik. Wie der Schuldenstaat uns entmündigt und wie wir uns befreien können. Blessing Verlag, München 2012, gebunden, 448 Seiten, 19,95 Euro

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