© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/12 08. Juni 2012

Haltungsnote
Immunspritze gegen EUtopien
Christian Schwiesselmann

Altersweise, die Gnade der späten Vernunft – wie auch immer man es nennen mag: Der frühere taz-Journalist Reinhard Mohr hat die Scheuklappen abgelegt. „Europa ist zur Ideologie geworden, und wehe dem, der Zweifel hat: Im Handumdrehen ist er ein gefährlicher ‘Euroskeptiker’, böser Populist, reaktionärer Verräter an der Zukunft des Kontinents“, beschrieb der 55jährige kürzlich in einem längeren Welt-Aufsatz das geistige Klima, in dem in Deutschland über Europas Dauerkrise diskutiert wird. Mohr hatte einst als Frankfurter Soziologiestudent und AStA-Mitglied in Daniel Cohn-Bendits linksradikalen Spontiblättchen Pflasterstrand agitiert. Diese Prägung hat den ehemaligen Spiegel-Redakteur, der auch für die FAZ und den Stern arbeitete, gegen Propagandaparolen immunisiert.

Das „Mantra“ vom zusammenwachsenden Europa glaubt der erfolgreiche Buchautor schon lange nicht mehr: „Hinter dicken Glasscheiben werden immer neue Fiskal- und Wachstumspakete ausgetüftelt, wie zu Zeiten der triumphalen Politbüro-Prosa, die in der ‘Aktuellen Kamera’ verlesen wurde, soll sich die gesetzmäßige Logik der Geschichte durchsetzen, deren schepperndes Echo sich zum Zweizeiler reimt: Vorwärts immer / rückwärts nimmer!“

Mohr, der sein Sensorium für die Aporien der Moderne in Büchern wie „Meide deinen Nächsten. Beobachtungen eines Stadtneurotikers“ (2010) bewiesen hat, sieht in der Europa-Vision unserer Eliten „den letzten Fluchtpunkt enttäuschter Transzendenz-Sehnsüchte“ nach dem Ende der großen Utopien. „Wenn der auf ‘Autopilot’ eingestellte europäische Geschichtsoptimismus geradezu gewaltsam versuchte, gleiche Verhältnisse in allen EU-Staaten anzustreben, wäre die totalitäre Logik von Robbespierres ‘Wohlfahrtsauschuss’ nicht mehr weit.“ Eine messerscharfe Analyse.

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