© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/12 15. Juni 2012

Wahrheit und Versöhnung
Sachsen-Anhalt: Im Ostharz erinnert ein Gedenkstein an ermordete Hitlerjungen
Christian Vollradt

Nun ist ein trauriges Kapitel beendet, eine offene Wunde geschlossen. Endlich, nach annähernd 70 Jahren. Für Hedwig Büttner und ihre beiden Brüder, Horst und Robert Frosch, ist der vergangene Freitag ein sehr wichtiges Datum: Jetzt erst steht der Name ihres ältesten Bruders Edgar auf dem Grab, in dem er seit dem April 1945 liegt – auf dem kleinen Friedhof oberhalb des Ferienörtchens Treseburg, im beschaulichen Bodetal. Dafür sind sie extra angereist aus ihrer fränkischen Heimat, hierher in den Ostharz.

Es ist nicht nur ein Kapitel im Leben ihrer Familie, es ist ein Stück deutscher Geschichte, ein Kriminalfall dazu. Denn der 16 Jahre alte Edgar Frosch ist am 19. April 1945 ganz offensichtlich Opfer eines Kriegsverbrechens geworden. An diesem Tag wollte er gemeinsam mit neun anderen Hitlerjungen durch den Harz wieder zurück in seine süddeutsche Heimat marschieren. Die Jugendlichen hatten einige Wochen zuvor nach einer notdürftigen militärischen „Ertüchtigung“ am Abwehrkampf von Wehrmacht und Volkssturm in der „Festung Harz“ gegen die vorrückenden Amerikaner teilgenommen. Als klar war, daß dieser Kampf mit dem Bau von Panzersperren nicht mehr zu gewinnen war, hatte man die Hitlerjungen entlassen – ohne Papiere aber mit Verpflegung und Zivilkleidung.

Als Edgar Frosch und seine etwa gleichaltrigen Kameraden Treseburg erreichten, gerieten sie unter amerikanischen Beschuß, obwohl Augenzeugen später berichteten, daß die Gruppe eine weiße Fahne geschwenkt habe. Einer der HJ-Jungen kann entkommen und sich verstecken, die anderen werden von den Amerikanern umzingelt, festgenommen und anschließend offenbar auch verprügelt. Am Ende werden neun Hitlerjungen, darunter der 16 Jahre alte Lehrling Edgar Frosch aus dem unterfränkischen Bürgstadt, in ein angrenzendes Waldstück geführt und durch Genickschuß getötet. Ermordet.

Warum die amerikanischen Soldaten dies taten, ist nie geklärt worden. Die Todesursache der Jungen steht dagegen „einwandfrei“ fest, wie ein Polizeiprotokoll nach einer Umbettung der Leichen 1951 feststellte. Grund für das Verbrechen könnte ein Racheakt gewesen sein, denn einen Tag zuvor waren die Amerikaner offensichtlich in ihrem Quartier von einem deutschen MG-Trupp unter Feuer genommen worden.

Zu Ehren der Opfer ist am vergangenen Freitag ein neuer Gedenkstein auf der Kriegsgräberanlage des Friedhofs in Treseburg feierlich eingeweiht worden. Erstmals sind nun die Namen der Ermordeten erwähnt; ein älterer Stein hatte noch die Bezeichnung „unbekannte Soldaten“ getragen. Eingeladen zu diesem kleinen, sehr würdigen Festakt hat der Bürgermeister der Stadt Thale, Thomas Balcerowski (CDU). In seiner kurzen Ansprache hebt er die Bedeutung hervor, die dieser neugestaltete Ort nun für die Angehörigen der Toten hat, erwähnt auch deren Vermächtnis an die nachfolgenden Generationen, sich für ein friedliches Miteinander der Völker zu engagieren.

Nicht nur ein Ort der Trauer sei diese Stätte, betont der evangelische Pfarrer anschließend, sondern auch ein Ort für unsere Zukunft; denn, so zitiert er den jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber, „das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung“. Sein katholischer Amtsbruder ergänzt, daß Unrecht niemals verschwiegen werden dürfe, egal vom wem es begangen worden sei.

Auf private Initiative hin ist auch der ehemalige amerikanische Offizier Merrit Drucker (JF 24/12) anwesend, der sich in einem bewegenden Grußwort an die kleine Trauergemeinde wendet: „Ich bin gekommen, um Verantwortung zu übernehmen für dieses Kriegsverbrechen und um die Rechtlosigkeit dieser Morde anzuerkennen.“ Der pensionierte Major spricht den Angehörigen sein Mitleid aus und dankt allen, die mit privatem Engagement die Erinnerung an das schreckliche Geschehen von damals wachgehalten haben.

Als die Gedenkfeier vorbei ist, kommt Merrit Drucker mit Walter Rosenbohm ins Gespräch. Rosenbohm, ein ehemaliger Berufssoldat der Bundeswehr, war im April 1945 in Sichtweite des Geschehens – als sechsjähriger Bub in der Treseburger „Kinderlandverschickung“. Von seinem Fenster aus hatte er die Stelle der Erschießung sehen können.

Vor dem Grab mit den frischen Blumen ein fester Händedruck. „Ach, Sie waren auch bei den Fallschirmjägern?“ „Ja, bei der 82. Airborne.“ Ein anerkennendes Lächeln. Man merkt: Die Gesten sind weder aufgesetzt noch einstudiert. Sie kommen genauso von Herzen wie die Worte der Trauer, des Mitleids und Bedauerns kurz zuvor. Anschließend kehren die Teilnehmer der Feier in die Gastwirtschaft im Ortskern ein; Hinterbliebene wie die Geschwister Frosch, die Zeugen von damals wie Walter Rosenbohm oder der Treseburger Manfred Röhse, dessen Tante jahrelang das Grab der Jungen gepflegt hatte; der Bürgermeister und der Gast aus Amerika. Das Bodetal ist an diesem Tag kein Ort des Hasses, der Rache, der Zwietracht. Hier geht es heute um Erinnerung, um Wahrheit und Versöhnung. Treseburg ist jetzt ein Ort des Friedens.

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