© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/12 15. Juni 2012
Bürger vor dem Reichstag Wir haben jetzt gerade das Reichstagsprogramm hinter uns – man ist das anstrengend.“ Die erschöpfte Touristin, am Mobiltelefon das selbst-auferlegte Pflichtprogramm rapportierend, hat nichts von der zur gleichen Zeit abgehaltenen Versammlung gegen den ESM-Vertrag bemerkt, der faktisch einer Selbstentmachtung des deutschen Parlaments gleichkommt (JF 22/12). Hiergegen demonstriert am vergangenen Freitag nachmittag auf dem Platz der Republik vor dem Reichstag ein parteiunabhängiges Bündnis, getragen unter anderem von dem Verein Zivile Koalition, den Globalisierungskritikern Attac und Radio Utopie. Die Vorsitzende der Zivilen Koalition, Beatrix von Storch, warnt in ihrer Rede vor rund 400 Teilnehmern davor, daß der ESM Rechtsstaat, Demokratie und Wohlstand in Europa gefährde. Aus diesem Grund müsse der „EU-Putsch“ verhindert werden. Mit jedem Tag werde Deutschland ärmer. Unfreiwillige Komik und Widerspruch begleiten die Rede der früheren FDP-Politikerin und heutigen Attac-Aktivistin Lony Ackermann: Bei der Vorstellung ihrer Person erwähnt die Diplom-Ingenieurin, sie sei „Expertin für internationalen Brandschutz“. Mit Blick auf die aktuelle Metaphorik zur „Euro-Rettung“ erscheint diese Selbstbeschreibung – angesichts der allseits geforderten „Brandmauer“ – als ironische Bemerkung. Als Ackermann die diskutierte Einführung der Transaktionssteuer als Attac-Erfolg anpreist und als Gewährsleute die Linkspartei-Politiker Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine benennt, reagiert das Publikum, unter das sich auch zahlreiche Touristen mischen, mit Buhrufen. Auch Vertreter der „Partei der Vernunft“ und der islamkritischen Partei „Die Freiheit“ haben den Weg vor den Reichstag gefunden. Unterdessen filmen zwei in schwarzer Montur gekleidete Polizisten die Protestveranstaltung, als handele es sich um eine verfassungsfeindliche Veranstaltung. Vertreter der Medien sind dagegen nirgends zu sehen. Ein extra aus Nord-rhein-Westfalen angereistes Ehepaar kann das nicht verstehen: „Eigentlich müßten doch alle Menschen auf der Straße sein – aber keiner weiß es.“ Ein protestierender Berliner weiß warum: „Wenn wir ein paar syrische Fahnen dabeigehabt hätten, wären lauter Medienleute hier.“ Ähnlich das Fazit einer anderen Demonstrantin: „Das wird ja alles totgeschwiegen – aber über jede schwule Demo wird hier berichtet.“ Im vergangenen Herbst hatte sie in Berlin vor einer öffentlichen Institution gegen den „Euro-Rettungsschirm“ demonstriert: „Wir waren 14 Leute und sieben Polizisten“, so ihr ernüchterndes Fazit. Während Fernseh-Teams der BBC und aus Japan vor Ort gewesen seien, hätten die deutschen Medien durch Abwesenheit geglänzt. So nimmt es auch am vergangenen Freitag nicht wunder, daß weder in TV und Hörfunk noch in den Tageszeitungen von der Anti-ESM-Demonstration im Herzen der Hauptstadt vor dem Reichstag berichtet wird. Bereits am Wochenende zuvor waren in München etwa 1.000 Demonstranten gegen den ESM auf die Straße gegangen (JF 24/12). Freie Wähler-Chef Hubert Aiwanger warnte dabei, was die EU mit dem ESM-Vertrag vorhabe, sei Kommunismus wie früher in Osteuropa. „Freies Risiko, aber haften sollen andere, das ist Kommunismus.“ Die Politik von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bezeichnete er als „DDR-Politik“. Die nächste Anti-ESM-Demonstration der Zivilen Koalition ist für den 16. Juni in Karlsruhe angekündigt. |