© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/12 15. Juni 2012

Pankraz,
J. L. Borges und der Tod der Bibliotheken

Im Zeichen des Internet sterben die Bibliotheken, auch die größten und berühmtesten, doch es ist ein langsamer Tod, dessen einzelne Phasen bei den „Angehörigen“, also bei professionellen Geistesarbeitern und Bücherfreunden, immer wieder Schmerzensschreie und Weinkrämpfe auslösen. Soeben haben in New York über tausend Schriftsteller aus aller Herren Länder, darunter Jonathan Lethem, Mario Vargas Llosa, Salman Rushdie und Hans Magnus Enzensberger, aufgeschrien, weil es jetzt der dortigen „Public Library“ in der Fifth Avenue an den Kragen geht.

Der „Stararchitekt“ Norman Foster (ein wahrer Unheilsbringer in der Architekur) wird die NYPL laut Stadtratsbeschluß während der nächsten vier Jahre in ein „modernes Multimedia-Zentrum mit Internetcafé“ verwandeln. Dafür muß der legendäre Lesesaal mit seiner „altbackenen“ Mahagoni-Ausstattung weichen. Das Bibliotheksmagazin (etwa zwölf Millionen Bände) wird teilweise nach New Jersey ausgelagert, im übrigen zu einem „computergenerierten Rotationssytem“ umgebaut. Es droht, wie die Protestierer sagen, ein „kultureller Vandalismus von einmaliger Ignoranz und Unverschämtheit“.

Leider wird der aktuelle Protest literarischer Prominenz sowenig ändern wie die vielen anderen Proteste in den letzten Jahren. Die Verwandlung berühmter öffentlicher Bibliotheken in Internetcafés, „wo lärmende Kids in Turnschuhen“, so die Neue Zürcher Zeitung, „ihre E-Mails checken“, schreitet mit der Wucht eines modernen Superbaggers voran, und zwar keineswegs nur in New York, sondern überall in der Welt, wo solche Bibliotheken bisher standen und für innerstädtische Pracht und Reputation sorgten.

Schon in jeder halbwegs respektablen Universitätsbibliothek läßt sich dieser Prozeß beobachten. Es begann damit, daß die Karteikästen verschwanden, durch Reihen von Hauscomputern ersetzt wurden. Bestell- und Ausleihvorgänge wurden voll digitalisiert (übrigens ohne dadurch bequemer zu werden), das menschliche Bedienungs- und Aufsichtspersonal deutlich reduziert. In den Lesesälen machten die intimen Leselämpchen mitgebrachten Laptops Platz, und die im Saal waltende traditionelle Stille wich dem banalen Klappern der Keyboard-Hackerei.

Nun mag man sagen: Was soll’s? Das ist der technische Fortschritt. Natürlich sind Leselämpchen romantischer als Laptops, aber wer fragt denn nach Romantik? Der Brunnen vor dem Tore war auch romantischer als die heutigen Wasserleitungen, doch niemand will deshalb auf diese verzichten. Das digitalisierte Archivwesen ist eine Errungenschaft allerersten Ranges, es ist eminent raumsparend und ungeheuer temporeich, und im Vergleich dazu schrumpfen auch die prächtigsten Bibliotheken zu ungefügen Dinosauriern, die bloß noch künstlich am Leben erhalten werden – eine ärgerliche Unbequemlichkeit!

Wer so spricht, hat natürlich recht, doch jedes Ding hat eben zwei Seiten. Die großen, berühmten Bibliotheken waren (und sind auch noch) nicht nur simple Archive, sondern darüber hinaus machtvolle Kulturereignisse, an denen sich oft ganze Staaten und Völker aufgerankt haben. Alle guten Herrschaften überall in der Welt legten Wert darauf, mindestens eine solche Stätte zu haben und sie stolz vorzeigen zu können. Man errichtete ihnen die ambitioniertesten Bauten und sorgte dafür, daß in ihren Mauern – selbst wenn die jeweiligen Machthaber schlimme Diktatoren waren – gewissermaßen Burgfrieden herrschte.

Feinste Umgangsformen waren angesagt, ein Stil souveräner Lernwilligkeit und ernstester, im Ton stets vornehm gedämpfter Diskussion, an den sich sowohl Besucher wie ständige Mitarbeiter penibel hielten. Selbstverständlich gehörte auch die hohe Anzahl der gehegten Bücher, Codices und Leserollen zum guten Stil und vermehrte den Ruhm des Hauses, so etwa der Russischen Staatsbibliothek in Moskau (42.000.000 Bände), der Library of Congress in Wa-
shington (29.000.000 Bände), der Deutschen Bücherei in Leipzig (23.500.000 Bände), der Chinesischen Nationalbibliothek in Peking (23.000.000 Bände).

Bibliotheken dieses Karats haben Geschichte gemacht und ganze Epochen geprägt, man denke an die Bibliothek von Alexandria in der vorchristlichen Antike, die unverbrüchlich als Symbol griechisch-alteuropäischen Wissenschaftsgeistes gilt und deren schließliche Zerstörung sich heute noch Christen und Moslems gegenseitig in die Schuhe schieben. Oder an die Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel, die im 17. Jahrhundert die größte europäische Bibliothek nördich der Alpen war und die völlig zu Recht zum Symbol des Barockzeitalters geriet.

Mit seinen 135.000 Titeln nahm sich Wolfenbüttel schon im Barock vergleichsweise bescheiden aus, aber alle Geistesgrößen der damaligen Zeit bestätigten dem Haus und seinen Verwaltern (darunter bekanntlich Leibniz und Lessing) eine unvergleichliche Gediegenheit beim Sammeln und Ausleihen der Bestände. Bald galt es als größte Ehre, den Wolfenbüttlern Schenkungen und Nachlässe zukommen zu lassen. Johannes Kepler schickte seine in Ulm erschienenen historischen Berechnungen des ekliptischen Planetenlaufs, die „tabulae Rudolphinae“, eigens mit handschriftlicher Widmung und höchster Ehrbezeigung.

Ob sich solcher Stil je ins Zeitalter der Internetcafés und der lärmenden E-Mail-Kids wird retten lassen? Man darf daran zweifeln. Allein schon die Atmosphäre, die in den Internetcafés herrscht, steht dem entgegen. Wie schrieb einst Jorge Luis Borges in seiner legendären Erzählung „Die Bibliothek von Babel“ aus dem Jahre 1941? Die ideale Bibliothek sei eine Bibliothek aller nur möglichen Bücher, und jede reale Bibliothek hier auf Erden müsse zumindest eine Ahnung von dieser idealen Bibliothek vermitteln. Niemand könne alles lesen, jede Bibliothek sei grundsätzlich intransparent und erfordere deshalb Respekt und Demut.

Wie aber sagen die heutigen Piraten? Transparenz über alles! Ob einer lesen kann oder nicht, sei dagegen zweitrangig.

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