© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/12 15. Juni 2012

Prinzipien eines Seins
Stammesrituale: Rockergruppen bilden eine archaische, männerbündische, oftmals kriminelle Subkultur
Baal Müller

Ich wär’ so gerne so wie du ein Hells Angel“, sang der Schauspieler Ben Becker 2001 in einem Lied über den legendären Motorradclub. Dreißig Jahre früher sagte der fünfzehnjährige Mark in Klaus Lemkes Kultfilm „Rocker“ annähend das gleiche zu seinem Filmbruder, einem später ermordeten, aber von einem Rockerfreund gerächten Kleinkriminellen. Einige der Laiendarsteller waren Mitglieder der Bloody Devils, aus denen 1973 in Hamburg der erste Charter (Ortsgruppe) des Hells Angels MC Germany hervorging. Damals galten Rocker noch als „zornige Stiefbrüder der Hippies“ – so der Journalist Kuno Kruse; und in der Tat entwickelten sich beide Szenen, sowenig die schwarzen Kutten mit Flower Power scheinbar zu tun hatten, als parallele Gegenbewegungen zum offiziellen Amerika der Nachkriegszeit.

Neben der musikalischen Revolution der Sechziger war für beide Subkulturen das Trauma des Vietnamkriegs prägend: Die Bandidos, die sich in den letzten Jahren in Deutschland blutige Auseinandersetzungen mit den Hells Angels lieferten, wurden 1966 von Veteranen der US-Marines begründet, deren Farben Rot und Gold sie als Vereinsfarben übernahmen. Während die Hippies den Krieg aber durch spirituelle Wandlungen überwinden wollten, fielen die Rocker stets durch ihren martialischen – und oft kriminellen – Habitus auf. So geht bereits der Name der 1948 in Kalifornien gegründeten und 1957 durch einen Zusammenschluß mehrerer Clubs unter der Führung von Ralph „Sonny“ Barger wesentlich erweiterten Hells Angels auf den Film „Hell’s Angel“ von Howard Hughes zurück, der 1930 die Erlebnisse britischer Kampfflieger des Ersten Weltkriegs behandelte.

Indem dieses „kriegerische Erbe“ aber von einer patriotischen, staatstragenden Gesinnung abgekoppelt wurde und, über diese hinweg, auf das Frontier-Bewußtsein zurückgriff, das dem amerikanischen Geist als ältere Tradi-tion eingeschrieben ist, bildete die Rockerszene einen bündischen Charakter aus, der sowohl auf angry young men verführerisch wirkte, als auch brutale Schläger anzog.

Die Faszination besteht, wie bei jeder männerbündischen Subkultur, in einer Kombination von Ambivalenzen und Polaritäten: Eine äußere anarchische, gegen die abstrakt-gesetzliche Ordnung gerichtete Komponente verbindet sich nach innen mit strenger Hierarchie, klaren Regeln, den archaischen Begriffen von Ehre und Treue – als Prinzipien eines Seins und nicht eines Verhaltens – sowie der Entscheidung für einen Lebensbund.

Aus- oder gar Übertritte zu „feindlichen“ Organisationen (wie sie gleichwohl immer wieder vorkommen) sind nicht vorgesehen und werden blutig gerächt; die Blutrache, die offenkundig nicht zum Bürokratisch-Satzungsmäßigen eines Vereins beziehungsweise zum Scheinbild bloßer „Motorradfreunde“ paßt, erinnert an mafiotische Strukturen, die den modernen Menschen nicht nur deshalb verunsichern, weil sie kriminell sind, sondern weil sie in die Urzeit tribaler Gemeinschaften zurückreichen, in denen das selbstbestimmte Individuum noch nicht existierte.

Schon äußerlich wird diese verschworene Einigkeit gegenüber der Außenwelt durch Uniformierung zum Ausdruck gebracht; das Schwarz der Lederkutten verweist, wie Karlheinz Weißmann 2004 in seinem Buch „Männerbund“ angedeutet hat, auf eine archetypische Symbolik, die von priesterlichen Gewändern über die Uniformen der SS bis hin zu den schwarzen Vermummungen der Links- und Rechtsextremisten immer wiederkehrt.

Die höchste und historisch bedeutsamste Ambivalenz des Männerbundes besteht jedoch in seiner spezifischen Mischung aus schöpferischen und zerstörerischen Kräften: Während Piraten und andere Räuberbanden lediglich destruktiv und parasitär von einer bestehenden Ordnung zehren und sich Kriegerbünde wie die nordischen Berserker in eine solche integrieren ließen, konnten die Männerbünde der Wikinger sowie der ritterlichen Orden im Mittelalter sogar Staaten begründen; zu denken ist vor allem an den Normannenstaat auf Sizilien, die Kiewer Rus und den Deutschen Orden im Baltikum.

Aus zwei Gründen liegt es auf der Hand, daß die Rocker bislang nicht vergleichbar produktiv auftraten: Zum einen fehlt ihnen jede intellektuelle Dimen-sion, insbesondere eine kulturelle Vision, und ihre Ideale beschränken sich, den gewöhnlichen Hedonismus kopierend und ins Kriminelle wendend, auf protzige Statussymbole und die „Freiheit“ des Highway. Zum anderen vollzog sich ihre Entwicklung innerhalb einer stabilen Gesellschaftsordnung, in der sie, mehr als geistig anspruchsvollere politische oder religiöse Gruppierungen, allgemein als Feinde von Recht und Gesetz wahrgenommen wurden. Der systemtreue, autochthone Kleinbürger, der den Drang nach hemmungslosem Konsum heimlich teilt, aber mit dem Wunsch nach Sicherheit verbindet, wird den Spatz geregelter Arbeit in der Hand stets der Taube auf dem Dach oder dem Adler im Gefängnis vorziehen – nicht aber der entwurzelte, entortete Mensch eines fragmentierten Gemeinwesens.

In dem Maße, in dem sich der Abstieg der Mittelschichten fortsetzt, die Akzeptanz der sozialen Ordnung schwindet und die demographische Bildung von Parallelgesellschaften fortschreitet, werden neotribale Strukturen, die auf Respekt, Gehorsam und lebenslanger Zugehörigkeit beruhen, die alten Formen überwuchern. So strömen seit einigen Jahren auch Migranten in traditionelle Rockerverbände: In Berlin wechselten türkischstämmige, wegen ihrer Brutalität besonders gefürchtete Bandidos in ein Charter der Hells Angels über, das jetzt verboten wurde, und in Bremen versuchten Mitglieder des berüchtigten Miri-Clans einen Ableger des Mongols MC zu gründen.

Die Frontlinien des Vorbürgerkriegs sind noch unübersichtlich, aber es ist zu erwarten, daß männerbündische Organisationsformen im Rahmen einer allgemeinen Tribalisierung wieder aufleben – Rocker eingeschlossen.

 

Ich war dabei: Bücher von Aussteigern und verdeckten Ermittlern bei den Hells Angels

Seit die Rockerszene in Deutschland, allen Gruppen voran die Hells Angels, in den Fokus von Polizei, Justiz und der damit einhergehenden Medienberichterstattung gerückt ist, steigt offenbar auch das Mitteilungsbedürfnis von Aussteigern und verdeckten Ermittlern. Die in den letzten zwei Jahren erschienenen Bücher sind alle nach dem gleichen Muster gestrickt: Ich war dabei, ich weiß was, und ich berichte davon jetzt mal! Die Autoren wollen „hinter die Fassade“ der Rocker schauen, sie wollen „auspacken“, „die Wahrheit“ erzählen. Immer wieder ist in ihren Darstellungen – zum Teil belegt, zum Teil schwer nachprüfbar – die Rede von organisierter Kriminalität, von Rauschgift- und Waffenhandel, Zuhälterei, Schutzgelderpressungen, Überfällen, Körperverletzungen, Totschlag und Mord. Oder wie es der „Kronzeuge Thomas P.“ sagt: „Es geht nicht um Freiheit, Individualität und Brüderlichkeit. Es geht auch nicht um Motorräder, Männerfreundschaften und Selbstverwirklichung. Bei den Hells Angels dreht sich alles nur um Macht, illegale Geschäfte, Unterdrückung und Gewalt.“ (tha)

George Wethern: Böser Engel. Die wahre Geschichte der Hells Angels. Riva, München 2012, gebunden, 304 Seiten, 19,99 Euro

Bad Boy Uli: Höllenritt. Ein deutscher Hells Angel packt aus. Ullstein Taschenbuch, Berlin 2011, broschiert, 256 Seiten, 9,99 Euro

Jay Dobyns/Nils Johnson-Shelton: Falscher Engel. Mein Höllentrip als Undercover-Agent bei den Hells Angels. Riva, München 2010, gebunden, 384 Seiten, 19,90 Euro

Thomas P.: Der Racheengel. Ich bin der Kronzeuge gegen die deutschen Hells Angels. Riva, München 2010, gebunden, 208 Seiten, 19,95 Euro

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen