© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/12 15. Juni 2012

Europas Arbeitsvolk
Uralte Konstellationen: Die Euro-Krise macht die Wiederkehr von Nationalcharakteren möglich
Ulrich Sauer

Vielleicht um die Stimmung vor der griechischen und europäischen „Schicksalswahl“ am 17. Juni kräftig anzuheizen, brachte Welt online kürzlich einen Beitrag über eine US-Untersuchung zu „Stereotypen in Europa“. Demnach halten Briten und Spanier ebenso wie Polen und Tschechen die Deutschen für die „fleißigsten Arbeiter“, während sie die meisten Faulenzer in Griechenland vermuten. Aus französischer Sicht ist Müßiggang am häufigsten beim italienischen Nachbarn anzutreffen. Dagegen glauben die Italiener, tief unter ihnen stünden die stammverwandten Rumänen.

Doch weder Franzosen noch Italiener stehen an, den Deutschen den Siegespokal in der europäischen Fleißkonkurrenz zuzuerkennen. Allein die Griechen setzen einen erheiternden Kontrapunkt, wenn sie auftrumpfend den Platz der Deutschen in dieser Liga für sich selbst reklamieren. Bedenkt man, daß die Griechen begnadete Steuerhinterzieher sind, ist ihr wahres Leistungsvermögen indes schwer einzuschätzen, zumal sie bei der zweiten Frage nach dem „korruptesten Land“ in Europa überraschend gut abschneiden. Nur die Griechen selbst wollen sich hier an der Spitze sehen, während für alle anderen, die Deutschland als „das am wenigsten korrupte Land“ würdigen, das mit dem Mafia-Stigma behaftete Italien klar vorn liegt, gefolgt von Spanien, Polen, Tschechien.

Wer solche Klassifizierungen heute liest, der glaubt, die Zeit sei stehengeblieben. So ungefähr vor hundert Jahren. Damals stand die Völkerpsychologie in voller Blüte. Sie hatte zum Gegenstand, was seit den Tagen Johann Gottfried Herders, der von ihm inspirierten romantischen Spekulation und Fichtes zunächst das preußische Wir-Gefühl stimulierenden „Reden an die deutsche Nation“ (1808) als „Volksgeist“ zum Leitbegriff für Fühlen, Denken und Handeln der Generationen zwischen den Befreiungskriegen und dem Untergang des Reiches im Frühjahr 1945 geworden ist.

Volksgeist, Volksseele, Volkscharakter – das ist politische Semantik, die das „Wesen“ eines Volkes als naturgegebene Größe statuiert, die jedem historischen Wandel entzogen ist. Darin spricht sich eine verständliche Sehnsucht aus nach Halt und Orientierung, die seit der „Sattelzeit“ um 1800 (Reinhart Koselleck), als sich alteuropäische Gewißheiten im Zuge der Industrialisierung auflösten, zum Motor nicht nur des deutschen Nationalismus wurde.

Ende des 19. Jahrhunderts errichtete die Idee, der Volksgeist wurzele womöglich in einer germanischen, slawischen usw. „Rasse“, sogar ein vermeintlich granitenes Fundament. Gleichzeitig meldeten sich aber bereits jene Zweifler, deren Erben nach 1945 die Diskursherrschaft mit der Behauptung übernahmen, es gebe nur individuelle, aber keine Volksseelen.

Genausowenig könne es daher psychische Dispositionen geben, die als „Volkscharakter“ exklusiv einer Menschengruppe eignen. Was immer sich seit Herder mit diesem Vokabular an ersatzreligiösen Erwartungen verband, im postmodernen Zeitalter sind dies unrettbar desavouierte Theoreme, die, wie es Hans R. Vaget, der Nestor der Thomas-Mann-Forschung, unlängst ausdrückte, nicht länger als „anschlußfähig“ gelten. Was von diesen „wahren Spukgestalten“, so der Staatsrechtler Georg Jellinek schon 1900, übrigblieb, scheint sicher weggesperrt im Reservat sportiver Folkloristik, wo – wie augenblicklich in der Ukraine und Polen – periodisch kollektive Identität nur als Alkohol-, Flaggen- und Hymnenrausch zugelassen ist.

Spräche dieser Befund das Schlußurteil in Sachen Nationalcharakter, dann bestimmt jener globalistische Imperativ fortan alternativlos die bundesdeutsche Reststaatsräson, den der Sprecher Jörg-Uwe Hahns (FDP), des hessischen Ministers für Justiz, Integration und Europa, unter der Parole „Das Zeitalter der Nationalstaaten war vorgestern“ soeben in bestechender Kürze definierte (FAZ vom 9. Juni): Nicht mehr nationale Herkunft schlage „die Brücke ins Morgen“, sondern „Leistung, Fähigkeiten und Weltoffenheit“. Hier pfeift auf das humane Potential von Nation, Heimat, Tradition, wer „Menschen“ ganz „liberal“ auf ihre Funktionalität im ökonomischen Verwertungsprozeß reduzieren möchte.

Aber diesem freidemokratischen Brückenschlag ins postnationale Zeitalter stehen vorerst noch die harten europäischen Realitäten entgegen, wie sie die US-Studie über faule Griechen, korrupte Italiener und fleißige Deutsche spiegelt. Die Großkollektive des alten Kontinents nehmen sich ungeachtet aller kosmopolitischen Predigten weiter starrsinnig als Nationen wahr. Und gerade die Deutschen erscheinen nahen und fernen Nachbarn exakt so wie vor dem Ersten Weltkrieg: als das Wirtschafts- und Arbeitsvolk Europas. Ein französischer Diplomat, 1911 befragt, was er für den Wesenszug seiner „Erbfeinde“ halte, antwortete: „Ils travaillent trop.“

Max Scheler, von 1914 bis 1918 wortgewaltiger Interpret des „Deutschen Wesens“, war überzeugt, die Deutschen seien wie geschaffen für die industrielle Moderne. Nur sie hätten sich in der Arbeit eine Freudenquelle erschlossen, sie liebten sie, und sie verstünden es, sie optimal zu organisieren, was ihre vorzügliche militärische Begabung ebenso erkläre wie ihre „faustische“, stets auf den „letzten Grund der Dinge“ gerichtete technisch-wissenschaftliche Intelligenz.

Zugleich lägen hier die wahren „Ursprünge des Deutschenhasses“. Denn ihr hohes Arbeitstempo, gepaart mit Erfindungsreichtum und Gründlichkeit, habe den West- und Südeuropäern wie den Nordamerikanern seit 1870 eine „zweite Vertreibung aus dem Paradies“ ihrer bis dahin gepflegten Gemächlichkeit zugemutet. Andererseits sei es dem „Herzvolk“ Europas gelungen, seinen vormodernen, „christlichen Solidarismus“ in einen „deutschen Sozialismus“ zu transformieren, der dem westlichen Kapitalismus ewiges Ärgernis sei.

Stimmt die These Fernand Braudels, wonach die bewegliche Ereignisgeschichte rasch abrolle, während die Naturbasis des Völkerschicksals die histoire quasi immobile abgebe und die darauf ruhende Schicht der longue durée, die auch die kollektiven Mentalitäten einschließt, sich nur im sehr langsamen Rhythmus wandele, dann legt die Euro-Krise derzeit uralte Konstellationen frei. Die Deutschen sind unverändert ein Arbeitsvolk mit antikapitalistischen Neigungen, wie das Übergewicht von „Mitte links“ in der Wählerschaft zeigt. Und jenseits ihrer Grenzen sind gegen sie stündlich die vertrauten Affekte abrufbar. Nur stoßen sie heute auf einen morschen Selbstbehauptungswillen. Aber selbst diese Auflösungstendenz soll „typisch deutsch“ sein, denn nach einer ausländischen Weisheit aus dem Dreißigjährigen Krieg, die Hans-Joachim Schoeps überliefert, ließen sich die politisch untüchtigen Deutschen am besten „durch Deutsche vertilgen“.

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