© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/12 15. Juni 2012
Was ist deutsch? Ein Satz aus Hans-Dietrich Sanders „Der Nationale Imperativ“, den man nicht oft genug wiederholen kann, lautet: „Identität ist eine Frage auf Leben und Tod.“ Das ist ebenso lapidar wie die Feststellung der US-amerikanischen Kulturkritikerin Camille Paglia: „Identität ist Macht.“ Machtlosigkeit bedeutet aber den Tod. Wie konnte man dies vergessen? Man kann die ganze Frage auch aus der entgegengesetzten Richtung aufrollen. Was bezwecken eigentlich jene, die der deutschen Identität und Existenz ihre Selbstverständlichkeit absprechen wollen? „Wo es um politische Machtfragen geht, stößt der bundesdeutsch konditionierte Geist an seine Grenze“, schrieb der Berliner Autor Thorsten Hinz in der JUNGEN FREIHEIT. Daß die „Formulierung eines deutschen Eigeninteresses“ heute „im Namen einer universalistischen Anmaßung“ zur verschwefelten Undenkbarkeit erklärt wurde, ist auch der Grund für die notorische Unfähigkeit der Auguren des deutschen Mainstreams, eine politische Lage deutlich zu erkennen und zu beschreiben. Sie rudern im Ortlosen und Prinzipiellen herum, unfähig, eine konkrete Perspektive einzunehmen. Das ist auch kein Wunder, war doch die Politische Wissenschaft in Deutschland „ein Nachkriegsimport aus Übersee“, und damit auch stets ein Stück kolonialer Herrschaftsideologie, von Anfang an eine „politisierte Wissenschaft, weil sie eine Analyse der internationalen Machtverhältnisse und der eigenen Machtgrundlage nicht bloß unterließ, sondern sie unter Hinweis auf die ‘westliche Werteordnung’ blockierte und tabuisierte“ (Hinz). Dazu kommt, daß die Entortung des Eigenen einen verdummenden Effekt hat. Der ungeerdete, unverortete Geist verliert sich im Abstrakten, Unsinnigen und Spekulativen. Wo sich das Bewußtsein trübt, trüben sich auch die Sinne, und von schwachen Sinnen zum Schwachsinn ist es nur ein kleiner Schritt. Wo aber der eigene Standort gefunden ist, schärft sich das Bewußtsein für Machtverhältnisse, ordnen sich die Dinge wie von selbst an ihren Platz ein. Frantz Fanons Blick auf die Pathologie der Kolonisierten bildete sich durch seine Tätigkeit als Psychiater in Algerien. Der Seelenarzt weiß wie kein anderer, daß Identität eine Frage auf Leben und Tod ist. Das Ziel einer psychologischen und psychiatrischen Behandlung ist stets die Wiederherstellung der Person. Auch Deutschland ist heute ein Irrenhaus voller depressiver Kolonisierter und Schlafwandler, die nicht einmal um ihre eigene Versklavung wissen. Und wie im Stummfilmklassiker „Das Cabinet des Dr. Caligari“ haben die Irren seine Leitung übernommen. Die geisteswissenschaftlichen Fakultäten sind heute über weite Strecken zu Ideologiefabriken verkommen. Die Methode der Dekonstruktion kann von jedem Dummkopf erlernt werden: Man muß lediglich einen bestimmten Jargon imitieren und die Gänsefüßchen an der richtigen Stelle zu setzen wissen. Als Höhepunkt der Auseinandersetzung mit der politischen Rechten, sofern sie denn überhaupt jenseits der Maulkorbmethode geführt wird, gelten dann Schlaumeiereien wie jene des SPD-Abgeordneten Mathias Brodkorb, der sich einen Ruf als „Neue-Rechte-Versteher“ erworben hat, weil er im Gegensatz zu den meisten anderen seiner Zunft einen Text halbwegs korrekt zusammenfassen kann. In einer Glosse machte sich Brodkorb etwa über die von „Rechtsextremisten“ vertretene Auffassung lustig, daß „deutscher Abstammung“ sei, wer „deutsche Eltern“ hat. „Philosophiestudenten des ersten Semesters würden sich nun vor Kichern auf dem Boden kringeln, weil diese Erklärung schlicht zirkulär ist. ... Denn wenn ‘deutsch’ ist, wer ‘deutsche’ Eltern hat, muß wiederum gefragt werden: Wann sind denn die Eltern eines Menschen ‘deutsch’? Die einzig mögliche Antwort: Wenn die Eltern dieser Eltern wiederum ‘deutsch’ sind. Und wann sind die Eltern der Eltern ‘deutsch’? Wenn die Eltern der Eltern der Eltern ‘deutsch’ sind usw. So könnte man fast bis ins Unendliche fortfahren und würde irgendwann, die Gültigkeit der Evolutionstheorie vorausgesetzt, bei ‘deutschen’ affenähnlichen Vorfahren ankommen und schließlich bei so etwas wie der ‘deutschen’ Amöbe. Woher die allerdings wiederum ihr ‘Deutschtum’ hat, bleibt ein Rätsel.“ Sottisen wie diese – vorgetragen von jemandem, der es mittlerweile bis zum Kultusminister in Schwerin gebracht hat – bewegen sich völlig im luftleeren, ahistorischen Raum. Sie sind rein deduktiv und haben keinen Bezug zur Wirklichkeit. Sie lassen dabei auch völlig außer acht, daß das angeblich so lachhafte Abstammungsprinzip bis in die jüngste Zeit als die wichtigste traditionelle Basis der Staatsbürgerschaft galt. Die Stärkung des ius loci gegenüber dem ius sanguis war paradoxerweise eine Folge der laufenden Selbstentortung der westlichen Völker, die sich vor allem in einer wahnwitzigen Akzeptanz von raumfremder Masseneinwanderung in die eigenen Länder ausdrückte. Daß Legosteindenken à la Brodkorb mit Aufklärung und Rationalität verwechselt wird, muß man wohl unter die Verfallssymptome rechnen. Aus dem Munde eines Politikers mit Ministerposten wäre dergleichen eigentlich ein Skandal: Jedoch ist diese gleichgültige Haltung gegenüber dem Wesen und dem Schicksal des Staatsvolkes ohnehin längst Standard unter den herrschenden Eliten, trotz des Wortlauts des deutschen Amtseides. Bisher haben nur wenige Deutsche begriffen, daß der demokratische Nationalstaat, in dem sie heute leben, inzwischen derart umgekrempelt wurde, daß er für das Gegenteil dessen steht, was er einst bedeutete. Der norwegische Blogger Fjordman schrieb: „Verrat in einem Nationalstaat bedeutete vormals Disloyalität gegenüber dem Erbe, der Freiheit und dem Weiterbestehen der besonderen Nation oder Ethnie, die traditionellerweise das Territorium des Landes bewohnt hat. Verrat in einem Ideologiestaat oder einer Willensnation bedeutet Disloyalität gegenüber den vom Staat behaupteten Idealen.“ Das heißt: Geächtet (etwa als „Extremist“ oder „Antidemokrat“) wird heute absurderweise, wer für das eintritt, was die traditionelle Aufgabe von Regierungen war: die Durchsetzung des nationalen Eigeninteresses. Diese pseudoaufklärerische Denkungsart ist indessen nicht bloß eine Beschränkung des Geistes. Sie ist auch eine ideologische Waffe, ein „korruptiver Gedankengang“ (Hans Blüher). Es hat keinen Sinn, sich unter Androhung des „Rassismus“-Vorwurfs und ähnlichem auf ein Schlachtfeld zerren zu lassen, auf dem man nur seine Energie verzetteln wird. Die Frage etwa, ob nun die Kultur oder die „Rasse“ beziehungsweise die ethnische Abstammung ein Volk ausmachen, legt in dieser kategorischen Form eine falsche Fährte. Denn diese Dinge sind nun einmal keine beliebig montierbaren Legosteine und keine Oblatentorten mit sauber trennbaren Schichten. Empirische Individuen sind ebenso wie die Völker, denen sie entstammen, immer ein dynamisches „Cluster“ aus mehreren Anteilen: Abstammung, Religion, Sprache, Kultur, Geographie und ein gemeinsames Narrativ. Es ist nicht entscheidend, ob wir für die Frage, was denn nun deutsch sei, eine komplette Checkliste aufstellen können, nach welcher dann entschieden wird, wer dazugehört und wer nicht. Adjektive sind, wie der Name schon sagt, nur Anwürfe. In dem Moment, in dem man das Ganze als bloße Summe seiner Teile auffassen will, hat man es aus den Augen verloren. Die logische Folge davon ist, – wie heute de facto praktiziert wird –, den Nationalstaat nur mehr als „zufälligen Ort auf der Landkarte“ zu verstehen, als „eine leere Schüssel, die nur dazu da ist, mit Konsum und Menschenrechten aufgefüllt zu werden“ (Fjordman). Jeder Deutsche (der nicht nur bloßer deutscher Staatsbürger ist), weiß im Grunde, wer oder was ein Deutscher ist und wer oder was nicht. Und die Nichtdeutschen wissen es erst recht. Und wer nur zum Teil Deutscher ist, ist sich dessen in der Regel auch bewußt, auch wenn er sich mit vollem Herzen zur deutschen Nation bekennt. Ein Deutscher zu sein, ist kein logisch abgeleitetes Prinzip, kein Set aus Eigenschaften, sondern eine lebendige geschichtliche Erfahrung, wie Vaterland und Muttersprache. Jedermann hat einen Vater und eine Mutter, eine Familie und eine Familiengeschichte, und jede Familiengeschichte ist Teil einer größeren, kollektiven Geschichte. Dies konstituiert das Narrativ der Nation, ja die Nation selbst ist das Narrativ, die große Erzählung, die alles zusammenhält und in der man selbst eine Rolle spielt. Klingt das alles immer noch zu tautologisch? Nun gut: Die Liebe zum Vaterland, zur eigenen Familie, zur eigenen Kultur, zum eigenen Volk, zur eigenen Sprache und so weiter ist letztlich wie alle Liebe etwas Tautologisches, etwas, das um seiner selbst willen existiert. Es geht hier um Bande, die wie die Blutsverwandtschaft eine schicksalshafte Bedeutung und eine emotionale Verankerung haben, die nicht zur Disposition steht. Was sonst soll die „absolut gesetzte Eigenart“ des Frantz Fanon sein? Heinrich von Kleist wies in seinem „Katechismus der Deutschen“, den er schrieb, als diesen ein algerisches Schicksal drohte, empört die Unterstellung zurück, er liebe sein Vaterland, „weil es Gott gesegnet hat mit vielen Früchten, weil schöne Werke der Kunst es schmücken, weil Helden, Staatsmänner und Weise, deren Namen anzuführen kein Ende ist, es verherrlicht haben“. Da seien Rom und Ägypten den Deutschen doch weit überlegen gewesen. Nein, er liebe sein Vaterland, eben „weil es mein Vaterland ist“. Wer das nicht begreifen und nachfühlen kann, dem fehlt eine entscheidende, auch menschliche, Tiefendimension: Er wird weder begreifen können, was Kultur eigentlich ist, noch was Volk eigentlich ist, noch was Politik eigentlich ist. Es gibt keine Liebe ohne Ausgrenzung und Abgrenzung. Auch das ist weniger paradox, als es zunächst klingen mag. Wer sich selbst haßt, kann auch andere nicht lieben, erst recht nicht den Fremden. Dieser wird dann nicht mehr als er selbst an seinem Ort wahrgenommen und anerkannt und vielleicht sogar geliebt, er wird zum Stellvertreter und Abgesandten des „Big Other“, wie Jean Raspail treffend formulierte, der zeitgenössischen Variante von Orwells „Big Brother“, dessen allgegenwärtiges Götzenauge zum Brennpunkt des nationalen Masochismus wird. Man sagte den Deutschen oft nach, daß sie die Neigung hätten, den Extremen zu verfallen, daß sie keine Makel, Doppeldeutigkeit, keine Zwischentöne neben Schwarz und Weiß ertragen könnten, und böse Zungen sahen in ihnen die ewigen Borderliner der europäischen Geschichte. Winston Churchill meinte einmal verächtlich, man hätte sie entweder zu den Füßen oder an der Kehle. Nur die Deutschen stellen sich die nach Nietzsche ewige Frage „Was ist deutsch?“, als würden sie über sich selbst zu Gericht sitzen. Nur die Deutschen kann man mit ihr aus der Fassung bringen, weil sie an dieser Stelle weniger fest im Sattel sitzen als andere Völker. Man stelle nun die Frage „Was ist türkisch?“ einem Türken, und wage es, ihn triumphierend für überführt zu halten, wenn ihm darauf keine rechte Antwort einfällt. Er wird vermutlich um so mehr darum verlegen sein, je selbstverständlicher er in seinem „Türkentum“ verwurzelt ist. Mit einem Schulterzucken wird die Sache für ihn erledigt sein. Man versuche auch, einem Kurden zu bedeuten, daß er doch ein Türke sein müsse, weil er einen türkischen Paß besitzt, ohne eine Maulschelle zu riskieren. Oder man erkläre den drei letzten deutschen Kindern einer Kreuzberger Grundschule oder der letzten deutschen Familie im Weddinger Wohnhaus, daß ihr Deutschsein doch nur ein Konstrukt sei, über das die Proseminaristen kichern, und daß sie darum gar keinen Grund hätten, sich als Fremde im eigenen Land zu fühlen. Letztlich wird der Deutsche aber nicht ewig vor sich selbst davonlaufen können, wird sein Deutschtum ebensowenig verleugnen können wie ein Frantz Fanon seine Nègrerie.
Martin Lichtmesz, Jahrgang 1976, ist als Journalist für die JF tätig und bloggt regelmäßig auf Sezession im Netz. Als Sachbuchautor hat er sich mit dem deutschen Film nach 1945 beschäftigt („Besetztes Gelände“, Kaplaken 22, Schnellroda 2010). Martin Lichtmesz: Die Verteidigung des Eigenen. Fünf Traktate, Kaplaken 28, Schnellroda 2011, 96 Seiten, gebunden, 8,50 Euro. Die fünf Essays umkreisen Themen wie Identität, demographische Kolonisierung und multikulturalistische Ideologie. |