© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/12 15. Juni 2012
Der Atlantik als künftige Demarkationslinie Nach den Anschlägen vom 11. September entwickelte sich das, was man die New-Empire-Debatte genannt hat, eine Diskussion darüber, ob die Vereinigten Staaten als Imperium, etwa als ein „neues Rom“, zu betrachten seien, und ob sie sich offen zu dieser Rolle bekennen sollten. Wenn diese Debatte inzwischen versandet ist, hängt das auch damit zusammen, daß die imperiale Qualität der USA von urteilsfähigen Beobachtern nie in Frage gestellt wurde, zumal in deren Geschichte von Anfang an eine Traditionslinie bestand, die die Schaffung des imperium americanum als Teil der nationalen Sendung betrachtete. Schon 1776, im Gründungsjahr der Union, schrieb einer der Repräsentanten der neuen politischen Klasse: „Somit ist plötzlich ein neues Imperium in der Welt entstanden, die Vereinigten Staaten von Amerika. Ein Imperium, das vom ersten Augenblick seines Daseins an die Aufmerksamkeit der übrigen Welt auf sich gezogen hat und mit Gottes Segen das strahlendste Imperium zu werden verspricht, von dem man je gehört hat.“ (William Henry Drayton) Bekannter als diese Sätze sind jene aus Washingtons Abschiedsbotschaft an den Kongreß, in denen er solchen Vorstellungen vehement widersprach, seine Landsleute beschwor, einen Kurs strikter Neutralität zu wahren und sich von allen diplomatischen Verwicklungen fernzuhalten. Aber es bleibt doch festzuhalten, daß es Washington weniger um Isolationismus, eher um eine Reaktion auf die konkrete außenpolitische Lage des Jahres 1796 ging. Die noch kaum gefestigte Union war damals dem aggressiven Werben des revolutionären Frankreich ausgesetzt, das sie in ein Bündnis gegen England ziehen wollte. Es gab in den Reihen der demokratischen Partei des Südens viele einflußreiche Männer, die von der Idee begeistert waren, Seite an Seite mit der „Schwesterrepublik“ den Kampf für eine neue Weltordnung gegen die Monarchien des alten Kontinents zu führen. Aber noch behielt die Friedenspartei die Oberhand, obwohl schon damals ein Kriegsziel angesprochen wurde, das für viele Amerikaner ausgesprochen attraktiv war: die Eroberung Kanadas. In den folgenden beiden Jahrzehnten, die Europa zuerst durch die Revolutions-, dann durch die napoleonischen Kriege erschütterten, verschwand die Forderung nach Annexion Kanadas niemals von der politischen Agenda der Vereinigten Staaten. Insofern ist es müßig, der Frage nachzugehen, ob für die amerikanische Kriegserklärung an Großbritannien vom 18. Juni 1812 das britische Handelsembargo gegen amerikanische Häfen oder die Zwangsrekrutierung von US-Bürgern für die Royal Navy oder die Angriffe der Indianerstämme von kanadischem Territorium ausschlaggebend waren. Denn der dahinterstehende Entscheidungsprozeß ließ bereits jene „Züge erkennen, die das außenpolitische Wirken der Vereinigten Staaten auch heute noch kennzeichnen“ (Raymond Aron): irgendein Ereignis, das die öffentliche Meinung massiv erregt, das Hin und Her zwischen der Überzeugung vom guten Recht der eigenen Sache und Gewissensbissen, eine seltsame Verquickung von moralisierenden und praktischen Absichten, der Vorstellung, daß die Kanadier die amerikanischen Truppen als Befreier begrüßen würden einerseits und die Aussicht, einen Absatzmarkt für amerikanisches Mehl zu gewinnen, andererseits. Im scharfen Gegensatz zu den hochgesteckten Erwartungen des Präsidenten James Madison und seiner Anhänger stand der Grad der militärischen Vorbereitungen auf amerikanischer Seite. Man verließ sich offenbar darauf, daß Napoleon mit seinem Vorstoß gegen Rußland auch Großbritannien einen tödlichen Schlag versetzen würde, und daß man im „zweiten“ die Erfolge des „ersten Unabhängigkeitskrieges“ einfach fortsetzen könnte. Weder die Marine noch die Landtruppen waren tatsächlich für den Krieg gerüstet. Infolgedessen scheiterten alle Invasionsversuche auf kanadischem Boden in den folgenden beiden Jahren, und die Flotte war weder in der Lage, das britische Embargo zu brechen, noch britische Verbände entscheidend zu schlagen. Zwar konnte die Marine eine Reihe von kleineren Siegen erringen, aber die schlecht geführten Landtruppen und die undisziplinierten Milizen blieben außerstande, sich gegen die zahlenmäßig weit unterlegenen, aber gut ausgebildeten und von fähigen Offizieren kommandierten britischen Linienregimenter durchzusetzen. Vollkommen irrig war auch die Hoffnung, die Bevölkerung Kanadas habe nur auf den Einmarsch der Amerikaner gewartet, um sich gegen die „Tyrannei“ zu erheben. Selbst die Frankokanadier – wenngleich ohne Sympathie für die britische Krone – standen geschlossen auf der Seite des Gegners. Sie hatten die Autonomierechte und die religiöse Toleranz zu schätzen gelernt, die man ihnen gewährte, während unter den britischen Kanadiern „Loyalisten“ und deren Nachfahren den Ton angaben, also königstreue Neuengländer, die die USA nach dem Ende des Unabhängigkeitskriegs in den Norden vertrieben hatten. Zuletzt spielten auch die indianischen Verbündeten der Briten eine Rolle, etwa der Shawnee-Häuptling Tecumseh, der „rote Napoleon“, der von einem panindianischen Staat träumte und Rache für die Massaker und Vertragsbrüche der Amerikaner nehmen wollte. Obwohl sich schon im ersten Kriegsjahr abgezeichnet hatte, daß die Vereinigten Staaten ihre militärischen Ziele nicht erreichen würden, schleppte sich der Krieg bis zum Sommer 1814. Daß es dann zu Friedensverhandlungen kam, war weniger der Niederlage Napoleons zu verdanken, mit dem die USA zwar kein formales, aber ein faktisches Bündnis eingegangen waren, als vielmehr dem Vorstoß der Briten gegen die Chesapeake Bay am 19. August des Jahres, der zuerst zur Niederlage der Amerikaner bei Bladensburg führte, dann zur Besetzung Washingtons, das drei Tage geplündert und dessen Hauptgebäude – darunter das Kapitol und das Weiße Haus – in Brand gesteckt wurden, und zur Flucht des amtierenden Präsidenten. Nichts davon spielt für das Kollektivgedächtnis Amerikas heute noch eine Rolle, sowenig wie der Frieden von Gent, der alles auf den status ante bellum zurückführte. Wenn, dann erinnert man sich an den Sieg bei New Orleans, den amerikanische gegen britische Landungstruppen am 8. Januar 1815 errangen, und das heißt nach Friedensschluß, weil die Nachricht vom Ende der Kampfhandlungen nicht rechtzeitig eingetroffen war. Aber das ist kaum mehr als ein Detail der historischen Entwicklung. Entscheidender war ohne Zweifel, daß die USA in der Folgezeit als Großmacht anerkannt werden mußten, eine Großmacht, deren Führung längst über eine neue Art von Reichsbildung nachdachte, die weit über den Anspruch auf kanadisches Territorium hinausging. Mehr als zehn Jahre vor der Formulierung der Monroe-Doktrin und ein halbes Jahr vor Kriegsbeginn, am 2. Januar 1812, hatte Thomas Jefferson geschrieben: „Wir insbesondere sollten beten, daß die europäischen Mächte sich dermaßen in Balance und Kontrebalance untereinander halten, daß ihre eigene Sicherheit alle ihre Kräfte daheim erfordert, und die übrigen Teile der Erdkugel in ungestörtem Frieden lassen. Wenn unsere Stärke uns erlaubt, unserer Hemisphäre das Gesetz aufzuerlegen, so sollte es darin bestehen, daß der Meridian, der mitten durch den Atlantischen Ozean läuft, die Demarkationslinie zwischen Krieg und Frieden bildet …“ Foto: Edward Percy Moran, Die Schlacht von New Orleans, Ölgemälde 1910 (o.); Amédée Forestier, Die Unterzeichnung des Vertrages von Gent, Öl auf Leinwand 1814: Das Weiße Haus in Brand gesteckt |