© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/12 15. Juni 2012

Lauter Dolchstöße
Wissenschaftlich wertlos: Mutmaßungen über den „Verrat“, der die Niederlage des Rußlandfeldzuges 1941/1942 verursacht haben soll
Matthias Bäkermann

Jedem Deutschen, der gemäß der Losung „Bleib übrig!“ am 8. Mai 1945 die „Stunde Null“ in „dem aus zahllosen Wunden blutenden Vaterland“ (letzter Wehrmachtsbericht) erlebte, war augenscheinlich klar, daß man gegenüber „einer gewaltigen Übermacht“ eine Kriegsniederlage historischen Ausmaßes erlitten hatte. Platz für eine „Dolchstoßlegende“, wie noch 1918, bot dieses Fiasko keinen mehr.

Dennoch beschäftigte die Zeitgenossen nach dem Krieg natürlich die Frage, welche Ursachen der Zusammenbruch gehabt haben könnte: Ganz gewiß die Italiener, die sich abermals als schlechte Verbündete erwiesen hatten, wußten die einen. Den Hobbygeneralstäblern an den Stammtischen der Nachkriegszeit, die sich der Strategie des Konjunktives widmeten, war hingegen völlig klar, daß ein „Angriff auf Moskau über die Flanke“ die Lösung gewesen wäre, damit „es geklappt hätte“.

Funktionseliten des Militärs wie der Heeresgruppenbefehlshaber Erich von Manstein sprachen die Schuld an den „verlorenen Siegen“ dem Diktator und seinen Lakaien zu, die den Generalstab mit unfähigen Befehlen von seiner klaren Linie abbrachten und damit die militärische Katastrophe zu verantworten hätten. Andere wiederum, die wie General Otto Ernst Remer, der an der Niederschlagung des Aufstandes gegen Hitler am 20. Juli 1944 beteiligt gewesen war, auf „ihren Führer“ nichts kommen lassen wollten, waren sich sicher, daß „die Verschwörer zum Teil in sehr starkem Maße Landesverräter gewesen sind, die vom Auslande bezahlt wurden“.

Auch der vermutlich pseudonyme Autor Friedrich Georg hängt dieser Schule an. So hat er bereits 2007 zu belegen versucht, daß Verräter und Saboteure auf deutscher Seite fleißig an der Niederlage mitwirkten, „Eisenhowers deutsche Helfer“ zum Beispiel 1944 in der Normandie den Alliierten entscheidend zugearbeitet hätten. Mit der Wortmeldung eines prominenten Zeitgenossen leitet er nun seinen ersten Band über den „Verrat an der Ostfront“ ein. „Der Verrat hat seit 1941 in Afrika wie in Rußland eine große Rolle gespielt“, wird „Mussolini-Befreier“ Otto Skorzeny zitiert. Da dieser 1941 den Rußlandfeldzug als subalterner SS-Offizier nur wenige Monate, Rommels Afrikakrieg überhaupt nicht miterlebt hatte, qualifiziert ihn wohl eher sein politischer Standort als Nachkriegs-Exilantenkollege von Hans-Ulrich Rudel oder Léon Degrelle in Francos Spanien, um mit seinem Zitat das 439seitige Geraune über den „wahren Hergang“ zu eröffnen.

Anders als der Grabert-Verlag großspurig ankündigt, wird nicht eine einzige der Fragen über den „gutorganisierten Verrat und die systematische Sabotage hoher deutscher Offiziere“ stichhaltig beantwortet. Statt dessen erwarten den Leser 15 Kapitel, in denen von der Planung des Ostfeldzuges über das Scheitern vor Moskau 1941 bis zur Tragödie von Stalingrad eine ganz eigene Weltkriegsgeschichte serviert wird, die – von Spekulationen und Hypothesen durchsetzt – eher noch mehr Fragen aufwirft. Variabel zwischen den großen Sachverhalten wie der strategischen Operationsplanung oder taktischen Militärmanövern und Feinheiten wie der Waffentechnik hin und her springend, serviert Georg ein oberflächlich materialreich wirkendes buntes Mosaik von Fakten und Mutmaßungen. Das allein würde eine stärkere Auseinandersetzung mit dem dilettantischen Werk eigentlich nicht rechtfertigen, könnte man an diesem nicht exemplarisch vorführen, daß perfide Klitterungen keine Domäne einer politisch korrekten Geschichtspolitik sind, sondern gleichermaßen im Lager der Revisionisten vorkommen.

Argumentative Widersprüche sind diesem Prinzip immanent. So deutet Georg einerseits an, Abwehr-Chef Wilhelm Canaris sei „Schutzengel“ der sowjetnahen „Roten Kapelle“ gewesen, anderseits wirft Georg ihm vor, er habe 1942 aus Haß gegenüber den Sowjets deren „Verhandlungsbereitschaft zu einem Friedensschluß“ nicht an Hitler weitergemeldet und damit verhindert, „daß Millionen Menschen auf der Welt das Leben gerettet“ würde. Derart irreale Theorien, die im konkreten Fall im grotesken Widerspruch zur an anderen Stellen des Buches immer wieder betonten Unerbittlichkeit des deutsch-sowjetischen Weltanschauungskriegs stehen, übertrifft Georg dann nur noch mit abenteuerlichen Räuberpistolen jener Sorte, Canaris habe beim Heydrich-Attentat 1942 die Fäden gezogen. Auch die zu Beginn des „Falls Barbarossa“ angeblich von den „hinter den Kulissen des Drittes Reichen arbeitenden Leuten“ gutinformierten Sowjets waren dann plötzlich derart überrascht, daß der Sieg der Wehrmacht im Spätherbst 1941 eigentlich nur noch Formsache gewesen wäre, wenn, ja wenn nicht „Verräter Sand in den bisher so gut geölt laufenden Motor der deutschen Kriegsmaschine gestreut“ hätten.

Für all diese Behauptungen stützt Friedrich Georg sich nicht etwa auf wissenschaftliche Dokumente, die eine Archivtätigkeit vorausgesetzt hätten. Für sein alternatives Geschichtsbild genügen ihm zusammengeklaubte „Belege“ aus verschiedener Sekundärliteratur, deren wissenschaftlicher Wert nicht selten ebenso fragwürdig ist wie seine „neuesten Forschungen“ (Verlagswerbung).

Dieses Verfahren wendet Georg auch bei der zentralen Frage nach dem „Personenkreis aus Verrätern und Saboteuren, an denen das Blut Hunderttausender klebt“, an. Dabei fällt es auf, daß er fleißig bemüht ist, insbesondere die Akteure des 20. Juli in den Dunstkreis des Landesverrats zu setzen. So reiht er Indizienketten aneinander, die sich wie ein Kriminalroman lesen und letztlich immer belegen sollen, daß neben der ohne Frage hochverräterischen Beseitigung ihres obersten Befehlshabers, deren sich Männer wie Stauffenberg oder Henning von Tresckow auch bewußt waren, auch landesverräterische Absichten im Fokus des Verschwörerkreises gestanden hätten. So wird jeder Fehler in der Heeresrüstung, wie etwa die mangelhafte Ausstattung der Truppe mit panzerbrechenden Waffen, zur bewußten Sabotage von 20.-Juli-Offizieren wie Friedrich Fromm oder Friedrich Olbricht konstruiert.

Auch die in der Tat hanebüchenen Versorgungsfehler 1941, die der Truppe in den Schneestürmen vor Moskau die notwendige Winterausrüstung vorenthielten, welche statt dessen in Hunderten Waggons im Generalgouvernement auf den Abtransport wartete oder sogar als aberwitzige Fehlsendung Soldaten des Afrikakorps erreicht haben soll, werden als besonders liederliche Schlechtigkeit seitens des Generalquartiermeisters Eduard Wagner ausgelegt. Das Scheitern vor Moskau, „durch völlig unsinnige Befehle“ verstärkt, wird mit „recht merkwürdigen Vorgängen“ innerhalb des Generalstabes der Heeresgruppe Mitte begründet, was wiederum, so deutet Georg listig an, „wohl kein Zufall“ sein könne, da dort mit Henning von Tresckow eine führende Person des Widerstandes wirkte. Belege? Keine. Obwohl es „völlig falsch und geschichtsverzerrend wäre, jeden Fehler, der auf seiten der Wehrmacht im Ostfeldzug vorkam, mit ‘Verrat’ und ‘Sabotage’ erklären zu wollen“, wie Georg im Nachwort großmütig eingesteht, verfällt er genau dieser Strategie, wenn er selbst Fehler im Wehrmachts-Kartenmaterial für die westliche Sowjetunion auf eine langfristige Verschwörung an entscheidenden Stellen zurückführt.

So reiht sein Buch munter Andeutung auf Andeutung aneinander, die der Erhärtung einer These diesen sollen: Nicht nur den offenkundigen landesverräterischen Agenten und Saboteuren, nein, allen Widerständlern gegen das NS-Regime sei der Vorsatz und die Absicht zur Last zu legen, das Reich schädigen zu wollen. Daß sich dahinter nichts anderes verbirgt als die Gleichsetzung Deutschlands mit seinem Diktator, wird auffallend dadurch unterstrichen, daß „der verlorene Sieg 1941-42“ mit keiner Zeile auf jene fatalen Entscheidungen Hitlers und seiner Paladine eingeht, die das Stalin-Reich vielleicht tatsächlich zum Einsturz hätten bringen können, so wie beispielsweise das Verprellen der „Ostvölker“ durch eine unsinnig harte und kompromißlose Besatzungs- oder Lebensraumpolitik.

Es versteht sich bei dieser apologetischen Herangehensweise fast von selbst, daß moralisch-ethische Motive der Widerständler, sich aus guten Grund gegen das immer offener seinen Unrechts-charakter präsentierende NS-Regime zu wenden, überhaupt keine Berücksichtigung erfahren. Daß der Autor an keiner Stelle die offenkundigen Verbrechen im Rücken der Front, die viele Widerständler in ihrer Opposition zu Hitler erst zum Handeln ermutigten, nicht einmal zaghaft problematisiert, wirft ein treffendes Licht auf seine Geisteshaltung.

So schließt das Buch mit der mysteriösen Feststellung, daß „eine ‘unsichtbare Hand’ bis heute die mutmaßlichen Verräter an der Ostfront zu schützen scheint“, da es „eine neue Dolchstoßgeschichte wie 1918 zu verhindern“ gilt. Schon dieses Fazit dürfte den Subtext des Buches entlarven: Nur ein Dolchstoß hätte Hitlers Wehrmacht „überwinden können, „die beste Militärmaschinerie, die jemals in der Geschichte ersonnen worden war“, so Georg schwärmerisch. Hätte es diesen nicht gegeben, „würde heute unsere Welt wohl anders aussehen“.

Man kann getrost auf die Bekräftigung durch den für den Sommer 2012 angekündigten zweiten Band über den „Verrat an der Ostfront“ verzichten, um sich vorstellen zu können, wie es in jener „Welt“ wohl bestellt wäre. Das Geschichtsbild über die Helden des 20. Juli als „eine ganz kleine Clique, gewissenloser und zugleich verbrecherischer, dummer Offiziere“, welches Adolf Hitler am 21. Juli 1944 über alle Sender des Reiches verkündete, hätte dort jedenfalls bis heute ehernen Bestand.

Friedrich Georg: Verrat an der Ostfront. Der verlorene Sieg 1941-42. Grabert Verlag, Tübingen 2012, gebunden, 445 Seiten, Abbildungen, 24,80 Euro

Foto: Otto Ernst Remer 1951 auf einer Wahlkampfveranstaltung der NS-nahen Sozialistischen Reichspartei; Propagandabild von 1918 zur Dolchstoßlegende: Wer das Wohl des Reiches mit der Person Adolf Hitler in Zusammenhang setzt, für den sind Widerständler „in sehr starkem Maße Landesverräter“

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen