© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/12 15. Juni 2012

Der Flaneur
Wie Eingeflüstert
Paul Leonhard

Darf ich Ihnen mal was erzählen?“ Die Frage steht plötzlich im Raum. Laut und unüberhörbar. Aber der Fragesteller sitzt allein in seinem S-Bahnabteil. Ein Mann, etwa 50 Jahre alt, mit kurz geschnittenem, spärlichem grauem Haar und Dreitagebart.

„Sie erblicken nie das Licht der Welt.“ Die dahinter sitzende Frau beugt sich vorsichtshalber nach vorn. Sie äugt mißtrauisch zu dem Mann. Ist sie gemeint? Aber der reagiert nicht. Erleichtert lehnt sich die Frau wieder zurück. Da stehen plötzlich zwei weitere Sätze im Raum. „Sie haben die Wände doch selber aufgebaut. Ja, Sie sehen, Licht breitet sich aus.“

Nein, der seltsame Fahrgast telefoniert auch nicht. Er lauscht in sich hinein. Und antwortet dann. Vor sich hat er eine große Lidl-Tüte stehen, aus der eine schwarze, zusammengerollte Isomatte lugt. An sie gelehnt ist ein dicker hölzernen Schaufelstiel. Der Mann greift sich eine Plastikflasche und gönnt sich einen tiefen Schluck. Es scheint kein Alkohol zu sein, sondern ein Fitneßgetränk oder Wasser.

„Du ißt Eierschecke?“ fragt er plötzlich wieder. Er prustet los, als hätte er einen ungeheuer lustigen Witz gerissen. Geräuschvoll zieht er die Nase hoch. Der Schaffner kommt. Umständlich holt der Fahrgast ein in Folie eingeschweißtes Papier heraus, faltet es auseinander und zeigt es. Der Uniformierte nickt und geht weiter. „Ich weiß nicht, wer noch was macht, aber Geld ist das richtige Zeichen, ist der Sonnenuntergang.“

Der Mann bückt sich, zieht langsam die Schnürsenkel seiner Turnschuhe auf und die Schuhe aus. Er legt die in schmutzig-weißen Socken steckenden Füße auf die Vorderbank. Sofort müffelt es im Abteil. Dann zieht er die fleckige Wanderjacke aus und verkriecht sich in sie, so daß auch der Kopf nicht mehr zu sehen ist. Schließlich flüstert er nur noch mit seinem Ich.

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