© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/12 15. Juni 2012

Noch ist der Protest friedlich
Euro-Krise: Der Rettungsfonds EFSF sichert den spanischen Banken 100 Milliarden zu / Immobilienkrise eskaliert
Michael Ludwig

Wir sehen Juan zum erstenmal auf einer Verkehrsinsel nahe Santa Eulalia auf der spanischen Partyinsel Ibiza. Er ist etwa 35 Jahre alt, groß und schlank, und streckt ein Schild in die Höhe: Suche Arbeit, gleich welcher Art. Stamme aus Barcelona. Keines der vielen Autos, die ihn umrunden, hält. Juan wirkt ziemlich verzweifelt, dann verschwindet er aus unserem Blickfeld. Zwei Stunden später treffen wir ihn an einem der malerischen Strände, die Ibiza zu bieten hat, wieder. Er sitzt auf dem Hocker einer Bar, das Schild neben sich. Man kommt ins Gespräch. Nein, sagt er, niemand sei ausgestiegen und habe ihm ein Angebot gemacht, obwohl er doch ordentlich zulangen könne, und was den Lohn betreffe, da sei er flexibel.

Juan ist kein Einzelfall – so wie ihm geht es 25 Prozent aller Spanier, die ohne Lohn und Brot dastehen, jeder zweite Jugendliche ist ohne Job. „Auch hier in der Strand-Bar brauchen sie niemanden“, sagt er. „Wenn das so weitergeht, werden wir bald Zustände wie in Griechenland haben.“ Seine Verbitterung ist nicht zu überhören, und als er erzählt, daß zwei befreundete Familien aus ihren Wohnungen vertrieben wurden, weil sie die Hypotheken nicht mehr zahlen konnten, mischt sich Aggression hinzu.

Besonders verbittert ihn die verbreitete Korruption im Lande, die mit einem beispiellosen Skandal in Marbella einen bislang nie dagewesenen Höhepunkt erreicht hat. Der Bürgermeister und 19 Mitglieder des Stadtrats wurden verhaftet, das Gemeindeparlament von der Zentralregierung in Madrid aufgelöst. Rund 2,4 Milliarden Euro sollen illegal geflossen sein. Dann folgte der Fall „Gürtel“, der so harmlos mit drei geschenkten Maßanzügen für den damaligen Regierungschef der Provinz Valencia begann und schließlich in einem Sumpf aus Bestechung, Bestechlichkeit und Subventionsbetrug endete.

Bizarr ist ein Fall aus dem armen Andalusien an. Dort verteilte der Generaldirektor für Arbeit und Soziales unrechtmäßige Frührenten in Höhe von fast einer Milliarde Euro; eine weitere Million soll er zusammen mit seinem Chauffeur für Kokain, Champagner und Fiestas durchgebracht haben. Auf Mallorca kam es beim Bau einer Radrennbahn zu Pfusch und Betrug mit einem Schaden von etwa 50 Millionen Euro. Selbst der Schwiegersohn des Königs soll sechs Millionen an Steuergeldern in die eigene Tasche gewirtschaftet haben. Er steht in Palma vor Gericht. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht über Schweinereien berichtet wird, in die die politische Klasse verstrickt ist. Wer mit deutschen Maßstäben mißt, könnte irre werden.

Ist Spanien mit Griechenland vergleichbar? Nein, ganz so schlimm sind die Zustände nicht – schon in den Bereichen Tourismus und Agrar trennen die beiden Mittelmeerländer Welten. Zahlreiche spanische Firmen haben beispielsweise eine gute Marktposition in Lateinamerika. Spanien ist mit 2,4 Millionen Fahrzeugen (2011) – nach Deutschland (6,3 Millionen) und vor Frankreich (2,3 Millionen) – der zweitgrößte Automobilproduzent in Europa. Der nächste Euro-Krisenkandidat Italien lag mit 790.000 Autos noch hinter der Tschechei (1,2 Millionen) und Polen (837.000). Ende vergangenen Jahres überstiegen – vor allem wegen des Einbruchs der spanischen Bauindustrie – die Warenexporte erstmals seit Jahren wieder die Importe. Das größte Problem sind die spanischen Banken. In den letzten Wochen jagte eine Horrorzahl die nächste. Zuerst hieß es, die Zusammenlegung der durch die Immobilienkrise angeschlagenen Sparkassen („Cajas“, JF 51/11) könne mit ein paar Milliarden Euro bewerkstelligt werden, aber dann ging es erst richtig los – Bankia, das viertgrößte Geldinstitut Spaniens, muß mit 23 Milliarden gestützt werden, um nicht unterzugehen. Inzwischen hat sich die Staatsanwaltschaft eingeschaltet, denn für 2011 wies Bankia noch einen Gewinn von 305 Millionen Euro aus, um kurze Zeit später einen Verlust von fast drei Milliarden zu melden. Die zuständige Staatsanwaltschaft nannte das „seltsam“, von Betrug und Dokumentenfälschung ist die Rede.

Wieviel Geld braucht der spanische Bankensektor wirklich, um den Offenbarungseid zu vermeiden? Die letzten Tage setzte darüber ein regelrechtes Rätselraten ein. Der Internationale Währungsfonds schätzte den Finanzierungsbedarf auf rund 40 Milliarden, die Ratingagenturen Fitch und S&P nannten zwischen 60 und 112 Milliarden, die regierende Volkspartei (PP) bis zu 100 Milliarden und der Internationale Bankenverband IIF kommt gar auf 218 bis 260 Milliarden. Ein IIF-Sprecher begründete diese Horrorzahlen mit der wirtschaftlichen Lage und der hohen Arbeitslosigkeit. Außerdem wird mit einer Kreditausfallquote von elf bis 14 Prozent gerechnet – bei 1,9 Billionen Euro Krediten könnten die Ausfälle somit bis zu einem Viertel des spanischen Bruttoinlandsprodukt betragen. Kein Wunder also, daß Fitch die Kreditwürdigkeit des Landes herabgestuft hat – um drei Stufen von „A“ auf „BBB“. Das sind nur noch zwei Stufen über Ramsch.

Wie hoch der spanische Kreditantrag genau ausfallen wird, steht noch nicht fest. Vermutlich werden es die 100 Milliarden sein, die die PP vorgegeben und die EU zugesichert hat. Da die Statuten des Rettungsfonds EFSF eine direkte Bankenfinanzierung nicht vorsehen, sollen die Milliarden zunächst an den spanischen Bankenrettungsfonds FROB fließen, der sie dann weitergibt. Wenn es darum geht, sich über Richtlinien hinwegzusetzen, waren die EU-Verantwortlichen schon seit jeher findig.

Wie sehr der einfache Mann auf der Straße, aber auch Geldanleger und Firmen dem Bankensektor auf der iberischen Halbinsel mißtrauen, macht auch folgende Beobachtung deutlich. Immer mehr Kunden räumen – wie schon in Griechenland – vorsorglich ihre Konten leer. Nach Angaben der Europäischen Zentralbank (EZB) haben sie allein im April 31,5 Milliarden Euro abgehoben, die größte Summe seit Dezember 2010. Zwar schlummern noch über 1,62 Billionen Euro auf spanischen Konten, aber der Vertrauensverlust ist unübersehbar.

Juan erzählt uns, daß er, sollte seine Arbeitssuche auch in den nächsten zwei Wochen erfolglos sein, nach Barcelona zurückkehren werde. Obwohl er ein geduldiger Mann sei, wolle er ein Zeichen „gegen die da oben“ setzen. Vielleicht schließe er sich einer der örtlichen Protestbewegungen an – etwa der katalanischen „No vull pagar!“, deren Anhänger nach Absprache regelmäßig an den Mautstellen der Autobahnen vorbeifahren, ohne zu zahlen. Oder er geht zu „Stop desahucios“, einer Organisation, die durch das massenhafte Auftreten ihrer Mitglieder Zwangsräumungen zu verhindern sucht. Als in Madrid die Preise für die U-Bahn angehoben wurden, zogen Unbekannte um genau 8 Uhr 29 in zehn stehenden Zügen gleichzeitig die Notbremsen und verhinderten so ihre Ausfahrt. Noch ist der Protest friedlich und mitunter phantasievoll. Es bleibt zu hoffen, daß er keine gewalttätigen Züge wie in Griechenland annimmt.

 

Spanien unterm Rettungsschirm

Die spanische Staatsverschuldung hat sich innerhalb von nur vier Jahren von 40 auf 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verdoppelt. Wie in Irland hat in Spanien die Bankenkrise zur Staatskrise geführt. Die Regierung hat Geldhäuser, die nach dem Platzen der Immobilienblase (sie wurde ausgelöst durch Niedrigzinsen infolge der Ablösung der Peseta durch den Euro) am Abgrund standen, verstaatlicht – mit Geld, das der Staat durch eigene Verschuldung aufgebracht hat. Sparer ziehen ihr Geld vorsorglich von spanischen Konten ab – das verschärft die Krise. Nach Angaben der Bundesbank hielten deutsche Finanzinstitute im ersten Quartal dieses Jahres gegenüber spanischen Geldhäusern Forderungen von 34,4 Milliarden Euro. Hinzu kamen Kredite in Höhe von 50,9 Milliarden Euro und spanische Staatsanleihen im Umfang von 19,5 Milliarden Euro – das summiert sich auf 104,8 Milliarden Euro. Am Beginn der Finanzkrise 2007 betrugen die deutschen Forderungen in Spanien noch 195 Milliarden Euro. Gegenüber Italien gibt es Ansprüche von 100 Milliarden Euro, gegenüber Frankreich von 149 Milliarden Euro.

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