© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/12 22. Juni 2012

Der Tod der Meisterdenker
Königin der Wissenschaften: Die Verpflichtung zur Sinnstiftung überfordert die Philosophie
Baal Müller

Es gibt keine großen Denker mehr“, lautet eine nicht zuletzt unter Konservativen beliebte Klage, und oft wird sie von Leuten im Munde geführt, die unter den Meisterdenkern der Vergangenheit noch so viel anregenden Lesestoff finden könnten, daß sie eigentlich keinen fehlenden Nachschub zu bemängeln bräuchten.

Die Symptome des Niedergangs scheinen dennoch offensichtlich; es mutet aus heutiger, intellektuell verarmter Perspektive erstaunlich und beschämend an, daß die maßgeblichen philosophischen Werke in Deutschland während weniger kurzer, schöpferischer – und in die Ferne gerückter – Perioden entstanden sind: Da sind die ungeheuer fruchtbaren Jahre vor und nach 1800, in denen ein Großteil dessen entstanden ist, was wir als den „deutschen Geist“ ansehen; ihr Impuls zieht sich durch das 19. Jahrhundert, gipfelt noch einmal in Friedrich Nietzsche und speist die fiebernden Zwanziger, die auch „Goldene Jahre“ des Denkens waren.

Im Dritten Reich schließt die Philosophie Kompromisse, geht in die innere und äußere Emigration, kann aber auch im Rahmen der Institutionen noch fortbestehen. Nach dem Krieg herrscht bis in die sechziger Jahre hinein Kontinuität, auch wenn sich der Blick vom „großen Ganzen“ auf Einzeldisziplinen und einzelne Fragestellungen verlagert. Noch immer wird von Existentialisten, Strukturalisten und sprachanalytischen Philosophen Bahnbrechendes geleistet; dann beginnt mit der Studentenbewegung die Sozialdemokratisierung der Hochschulen, die letzten herausragenden Denker – die ihre prägenden Bildungserlebnisse bereits während des Ersten Weltkriegs hatten – sterben, und seitdem schreiben Professoren Sekundärliteratur.

Natürlich ist unser von Bildungsverfall und Egalitarismus, Tabus und Denkverboten, Quoten und ideologisierter Mittelvergabe beherrschtes Hochschulwesen der Philosophie nicht gerade förderlich, aber der Widerstreit von Geist und Macht ist älter als rot-grüne Bildungspolitik: Auch zu Sokrates’ und Giordano Brunos Zeiten war die Philosophie ein Wagnis, doch während man früher den einzelnen Denker tötete, macht man heute dessen geistige Voraussetzungen zunichte; man braucht keine grundsätzlichen In-Frage-Steller, wenn sowieso alles „alternativlos“ ist.

Dennoch ist es zu bequem, die Schuld am Niedergang der Philosophie, ähnlich dem des christlichen Glaubens in Europa, nur „den Linken“ in die Schuhe zu schieben – auch deren destruktiver Einfluß hat seine Voraussetzungen und inneren Notwendigkeiten; sie vermochten nur das umstürzen, was bereits gebrechlich war.

Woraus resultieren diese Gebrechen? Die Schwäche der neuzeitlichen Philosophie könnte gerade in ihrer vermeintlichen Stärke bestanden haben. Immer mehr wurde ihr aufgeladen, nachdem sie sich von der mittelalterlichen „Magd der Theologie“ zur Königin der Wissenschaften emporgearbeitet hat: Alles Wissen mußte sie zusammenfassen und in eine Form bringen, die der Ordnung des Seienden entsprechen sollte, und den Bogen zur Religion einerseits, zu sämtlichen Einzelwissenschaften andererseits schlagen.

Diese Verpflichtung zur Sinnstiftung überforderte sie schon in der Zeit Schopenhauers, Hegels und Marx’, die ihre großen Systeme nur um den Preis der „Entwirklichung“ zustande bringen konnten. Je mehr das Wissen der Menschheit explodierte, desto größer wurde die Gefahr des Reduktionismus, desto näher rückte der Totalitarismus, der immer droht, wenn man die Welt „auf den Begriff bringen“ oder wie ein getrocknetes Blatt zwischen Buchdeckel pressen will, handelt es sich nun um ein religiöses oder ein philosophisches Buch.

Parallel zu dieser Sinn-Aufladung der Philosophie verlief der Abbau des Glaubens. Auch dieser begann auf einem äußerlichen Höhepunkt: Schien sich im Mittelalter der christliche Glauben alle Wissensformen unterworfen zu haben, so wurde er tatsächlich von ihnen überfremdet.

Die Anfänge der „Pseudomorphose“ (Oswald Spengler) von christlicher Religiosität und Philosophie liegen bereits in der Antike, in der sich die frühen Christen gegen ein feindliches Umfeld behaupten und dessen Argumentationsformen übernehmen mußten, und führten zur Ausbildung der klösterlichen Scholastik. Als diese der naturwissenschaftlichen Forschung nicht mehr ihre Normen aufzwingen konnte, verlagerte sich das christliche Sinn- und Heilsversprechen in mehr oder weniger säkularisierter Form auf die Philosophie.

Aber auch die „großen Erzählungen“ der Aufklärung, des Deutschen Idealismus oder des Marxismus – und mit ihnen die Begriffsdichter und Meisterdenker – wurden von der Wirklichkeit allzuoft Lügen gestraft. Ist die Philosophie daher überhaupt gescheitert, wie uns die Postmodernisten in den letzten vierzig Jahren weismachen wollten? Bleibt uns wirklich nur noch das „postmoderne Wissen“ (Lyotard) als Spiel mit Zitaten, Kommentar und Meta-Kommentar, Wiederholung, Endlosschleife und „anything goes“?

Wir dürfen aufatmen: Nur die überstrapazierte Systemphilosophie ist gescheitert; die Welt läßt sich auch in ihren „ontologischen Grundlagen“ nicht in einem Buch zusammenfassen. Die Alternative kann aber auch nicht das offene, virtuelle Buch des Internet sein, in dem alles mit allem ohne Seinshierarchien und lediglich nach quantitativen, kommerziellen und machtpolitischen Verhältnissen „verlinkt“ ist. Wissen besteht niemals in der bloßen Anhäufung, sondern in der zielgerichteten Auswahl, und kein Archiv kann diese Auswahl selbst treffen.

Der Mensch, der nach „wahr“ und „falsch“ fragt und Wesentliches von Belanglosem trennt, bleibt also gefordert – nur darf seine Begriffsbildung nicht mehr am Anfang stehen, sondern hat unter stetigem Rückgang auf „die Sachen selbst“ zu erfolgen. Der Frage gebührt dabei der unbedingte Vorrang vor der Antwort, und wer auf alles sofort eine Antwort hat, ist kein Philosoph, sondern ein Ideologe.

Eine ähnliche Gesundschrumpfung könnte auch der Religion gut bekommen: Anstatt – in Nachahmung der Philosophie – Lehrsätze zu verkünden, hätte sie sich der Erfahrung des Heiligen zu öffnen. Meisterdenker, die das Fragen, und Buchstabengläubige, die das Schauen verlernt haben, schaden ihrem Anliegen mehr, als sie nützen.

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