© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/12 22. Juni 2012

Die wahre Zeit
Schuld ist die Erdumdrehung: Am 1. Juli werden die Uhren um eine Sekunde vorgestellt
Richard Stoltz

Am 1. Juli wird uns eine Sekunde Zeit geschenkt!“ So säuselte ganz versonnen letzten Montag eine linksstehende französische Provinzzeitung; es war der Tag nach dem Sieg von Präsident Hollande und seiner Sozialisten bei den Parlamentswahlen. Es klang fast so, als sei diese Schenkung der erste Abschlag auf die Politik François Hollandes, der seinen Wählern ja so viele weitere Geschenke versprochen hat, zum Beispiel die Rente mit sechzig. Die glücklichen Neu-Rentner in spe werden schon ab nächster Woche eine Sekunde mehr Freizeit haben!

Die Ursache dafür liegt freilich, wie auch die volle Lektüre des Artikels zutage brachte. nicht in der von Hollande versprochenen „Neuen Politik“, sondern in der („alten“, uralten) Erdumdrehung. Tatsächlich werden am kommenden 1. Juli nicht nur in Frankreich, sondern überall auf der Welt die Uhren um eine Sekunde vorgestellt. Den normalen Uhrenbesitzer läßt das natürlich ziemlich kalt, aber für die ungeheuer präzisen Atomuhren in den astronomischen Instituten ist das eine große, hochwichtige Angelegenheit.

Ab 1. Juli wird dort also zwischen die Zeitangaben „1 Uhr 59.59“ und „2 Uhr 00.00“ eine neue Zusatzsekunde eingeschoben: „1 Uhr 59.60“. Und das nicht wegen irgendwelcher Sommer- oder Winterzeiten, sondern weil die Realzeit in Gestalt der Erdumrundung nicht mehr voll mit der auf den Atomuhren angezeigten Zeit übereinstimmte. Die Erdumrundung, so läßt das Physikalisch-Technische Bundesinstitut in Berlin mit verdrießlichem Stolz verlauten, sei im Vergleich zu den von Menschenhand geschaffenen Atomuhren „unzuverlässig“, sie „liefert ein nicht mehr ausreichend exaktes Zeitmaß“.

Die armen Atomuhrwerker! Sie müssen nun lernen, daß die wahre Zeit nicht immer exakt in ihre Berechnungen hineinpaßt, und müssen sich dem zähneknirschend fügen. Erdumrundung geht vor Menschenuhr. Das ist übrigens kein schlechtes Symbol für die „Neue Politik“ des Francois Hollande. Sie kann noch soviel versprechen, am Ende wird sie sich dem wahren Leben fügen müssen.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen