© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/12 22. Juni 2012

Gute Menschen, böse Menschen
Philosophentum der Widersprüche: Der Begründer der neuzeitlichen Linken und geistige Wegbereiter der Französischen Revolution, Jean-Jacques Rousseau, erblickte vor 300 Jahren das Licht der Welt
Felix Dirsch

Zwei Männer, die die Epoche der Aufklärung auf ihre Weise prägen, sind im Jahre 1712 geboren: Friedrich II. von Preußen und Jean-Jacques Rousseau. Der Sohn eines Uhrmachers ist zwar nicht adeliger Abstammung; dennoch verbindet ihn mit dem Hohenzollern-Herrscher etwas Maßgebliches: Repräsentiert der eine ein „Königtum der Widersprüche“ (Theodor Schieder), so der andere ein unstetes Leben des Umherziehens und Nachdenkens voller Paradoxien.

Mit seiner Schrift „Émile“ (1762) gilt Rousseau weithin als Vater der modernen Pädagogik, der dem Kind ein natürliches, das heißt: von Normen und Vorstellungen der Erwachsenen möglichst lange unbeeinflußtes Leben gönnen möchte. Trotz dieser edlen Erziehungsmaxime liefert er seine sämtlichen Kinder im Findelhaus ab.

Für einen Wanderburschen mit prekärer, mutterloser Kindheit ist es nicht überraschend, daß die absolute Freiheit einen zentralen Stellenwert darstellt. Sie schlägt jedoch in seinem „Gesellschaftsvertrag“ in einen Kollektivismus um, der für manche Interpreten am Anfang der neuzeitlichen „totalitären Demokratie“ (Jacob Talmon) steht. Darüber hinaus liegen diverse Hinweise vor, die ausgerechnet den Kritiker des Fortschritts als geistigen Wegbereiter der Französischen Revolution, ja sogar als den des Jakobinerterrors erscheinen lassen. Wohl nicht von ungefähr hängt in einem Zimmer des berüchtigten Advokaten Maximilien de Robespierre ein Bild des großen Idols. Doch damit nicht genug. Rousseau, der grundsätzlich pessimistische Betrachter, nimmt einen optimistischen Wesenskern alles Humanen an. Der Mensch sei gut, so sein in dieser Pauschalität nur schwer haltbares Urteil.

Eine derartige Sicht macht ihn zum Begründer der neuzeitlichen Linken, mehr noch als Karl Marx. Oskar Lafontaine hat das erkannt. Der frühere Ministerpräsident hat einen Satz des französischen Schriftstellers, der lautet: „Zwischen dem Starken und dem Schwachen ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit“, auf einem Banner der Fraktion „Die Linke“ anbringen lassen. Rousseaus im „Gesellschaftsvertrag“ mit Aplomb vorgetragene Überzeugung, der Mensch sei „frei geboren“ und überall liege er „in Ketten“, ist für die Linke seit weit über 200 Jahren ein Fanal der Hoffnung.

Der Nachruhm ist dem Sohn der freien Republik Genf nicht in die Wiege gelegt. Früh will er die weite Welt kennenlernen. Er verdingt sich zuerst als Nachhilfelehrer, Notenkopist, Romancier, Lyriker, Zeitvertreiber älterer Damen und vieles mehr. Später berichtet er in seinen „Confessions“(1782) ausgiebig darüber. Erst seine Antwort auf ein Preisausschreiben der Akademie von Dijon bringt ihm Popularität. In seinem „Discours sur les sciences et les arts“ (1750) bestreitet er, daß Wissenschaften und Künste die Sitten reiner gemacht hätten. Seine Haltung trägt ihm den Spott des großen Voltaire ein: „Nie hat jemand so viel Geist aufgeboten, um uns zu dummen Eseln zu machen.“

Rousseau steht in der Tradition der neuzeitlichen Vertragstheorie. Der einzelne, der nicht einmal über sprachliche Fähigkeiten verfügt, ist im hypothetisch angenommenen Urzustand unabhängig. Das ändert sich infolge zufälliger Umstände, etwa Naturkatastrophen. Der ursprünglich Isolierte verliert sein Glück, weil er sich nunmehr mit anderen zusammenschließen muß. So entwickeln sich in Etappen Kommunikation, Arbeitsteilung und endlich der Sündenfall schlechthin: das Privateigentum.

In seinem 1755 erschienenen Werk „Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes“ (Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen) heißt es: „Der erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab und auf den Gedanken kam zu sagen ‘Dies gehört mir’ und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wieviel Elend und Schrecken wäre dem Menschengeschlecht erspart geblieben, wenn jemand die Pfähle ausgerissen und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ‘Hütet euch, dem Betrüger Glauben zu schenken; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß zwar die Früchte allen, aber die Erde niemandem gehört’.“

Aus ungleichen gesellschaftlichen Verhältnissen werden schließlich ungleiche politische Zustände. Die gegenwärtige Situation ist demnach die Folge eines Dekadenzprozesses. Daher liegt es auf der Hand, die Möglichkeiten zur Rückkehr in das verlorene Paradies auszuloten. Rousseau strebt höchstens indirekt zurück zur Natur – das bekannte Diktum haben andere ihm zugeschrieben.

Nicht einmal durch Mehrheitsentscheid kann die ursprüngliche Freiheit wiedergewonnen werden, wohl aber dadurch, daß aus dem Willen der Mehrheit die Sonderinteressen ausgefiltert werden. So entsteht als Ergebnis von Verständigungsprozessen, die nicht genauer beschrieben werden, die volonté générale – eine schwer entwirrbare, mehr utopisch angehauchte als pragmatisch handhabbare Denkfigur. Dieser Gemeinwille repräsentiert das „wahre Interesse“ der Demokratie, das, was man üblicherweise unter Gemeinwohl versteht. Daran knüpft in der Gegenwart vor allem Jürgen Habermas an. Dessen Konzeption des „herrschaftsfreien Diskurses“ will den Diskutanten ebenfalls nur das legitimerweise zugestehen, was alle besitzen: die Möglichkeit des Arguments.

Anhänger und Gegner des so wirkmächtigen Autors sind bis heute Legion. Immer wieder wird sein Trend zum Gleichmacherischen angeprangert. Er geht sogar so weit, daß er den Einwohnern des Staates eine Zivilreligion oktroyieren will. Gemeint ist damit ein künstliches Minimalcredo, das sozialen Kitt herstellen soll. Dieses soll mit den überlieferten Religionen nicht konkurrieren, sondern ein vereinheitlichendes Band unter den Staatsbürgern bilden.

Rousseau weiß, daß Politiker, die gläubig sind, im Regelfall anders handeln als Atheisten. Folgende Bestimmungen soll diese religion civile umfassen: eine höchste, intelligente Gottheit; das künftige Leben; eine Bestrafung der Bösen und den Schutz der Guten; die Heiligkeit des Sozialvertrages. Dieses Bekenntnis anzunehmen, ist für alle Bürger Pflicht. Es soll mittels der Todesstrafe sanktioniert werden. Seinerzeit ist das alles weniger harmlos, als es heute anmutet. Der „Émile“ wird nicht zuletzt wegen seiner zivilreligiösen Andeutungen, die vielen Zeitgenossen als häretische Version des echten christlichen Glaubensbekenntnisses erscheinen, verbrannt. Alle heftigen Debatten über Zivilreligion heute, die überall in der westlichen Welt entbrannt sind, etwa über Kruzifixe in öffentlichen Räumen, beziehen sich, ob direkt oder indirekt, auf Rousseau.

Die Wirkungen insbesondere des Zivilisationskritikers können kaum überschätzt werden. Beispiele dafür sind zahlreich. So wird im Kleist-Jahr 2011 öfter der rousseauistische Aspekt der Biographie dieses zwei Generationen jüngeren Schriftstellers herausgestellt. Kleist möchte nach der Lektüre des Liebhabers des „edlen Wilden“ die verdorbene Welt des Luxus und des Sittenverfalls verlassen und lebt für einige Zeit auf einem Bauernhof.

Die Tragik Rousseaus besteht nicht zuletzt darin, daß der Hauptstrom der politischen Rezeption die Ambivalenz seines Gedankenguts kaum beachtet. So erhalten meist seine optimistischen Aussagen über die menschliche Natur und ihre Perfektionierbarkeit einen überdimensionalen Stellenwert. Sie werden nicht selten als grundlegend für die „Inangriffnahme gesellschaftspolitischer Fortschrittsprojekte“ (Jan Fleischhauer) gesehen.

Doch diese Perspektive ist durch den „anderen“, den nüchtern-skeptischen Rousseau zu ergänzen, bei dem es heißt: „Wenn es ein Volk von Göttern gäbe, würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung paßt für Menschen nicht.“ Vielleicht hat uns Heutigen in Zeiten, in denen überall das „Ende der Demokratie“ (Jean-Marie Guehenno) an die Wand gemalt wird, diese Seite des Denkers mehr zu sagen.

Fotos: Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), Pastell auf Papier von Maurice Quentin de La Tour, 1753: „Die Familie ist die älteste aller Gemeinschaften und die einzige natürliche.“; Rousseaus „Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“

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