© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/12 22. Juni 2012

General Hunger unterlegen
Vor 200 Jahren begann der Rußlandfeldzug Napoleons: Eine katastrophale Versorgung sorgte dafür, daß die Grande Armée unterging
Jan von Flocken

Es war ein niederschmetternder Rapport, den Marschall Edouard Mortier, Kommandeur des 1. Gardekorps, seinem Kaiser Napoleon geben mußte: „In den letzten Wochen habe ich nur verwüstete Häuser gesehen sowie von ihren Führern verlassene Munitions- und Proviantwagen. (...) Durch die kalten Regengüsse und das unreife Getreide, dieses einzige und ungewöhnliche Futter, sind 10.000 Pferde umgekommen, sie liegen haufenweise auf der Landstraße und verbreiten, in Fäulnis übergehend, einen unerträglichen Gestank, (...) mehrere Soldaten der Garde sind bereits Hungers gestorben.“ Zu jener Zeit notierte ein Offizier des 3. Armeekorps: „Der unbarmherzige Regen währte fort und versetzte uns in einen jämmerlichen Zustand. Auf unserem zehnstündigen Marsch bleiben viele Soldaten und Pferde sterbend im Kot liegen.“

Was wie Schilderungen eines verheerenden Rückzugs klingt, ereignete sich tatsächlich im Sommer 1812. Damals befand sich die Grande Armée Napoleons tief in russischem Gebiet. Just zu dieser Zeit erlitt die anfangs etwa 450.000 Mann zählende Truppe, die Richtung Moskau vorrückte, ihre schlimmsten Verluste. Der Rußlandfeldzug begann und endete als Desaster. Es ist eine Legende, daß Napoleons Feldherrengenie nur von „General Winter“ besiegt wurde und seine Armee ihre enormen Verluste wegen der eisigen Kälte erst auf dem Rückmarsch erlitt.

Die weitaus meisten Todesopfer forderte das unkoordinierte Vordringen im Sommer 1812. Der württembergische Offizier Christian von Martens, wie 130.000 Deutsche auch zum Militärdienst für Napoleon verpflichtet und Augenzeuge des Feldzuges, brachte es schon am 30. Juni (sechs Tage nach Beginn des Unternehmens) auf den Punkt: „Unsere eilige Verfolgung des Feindes glich unter solchen Umständen mehr einem verwirrten Rückzuge.“

„Solche Umstände“: Darunter fiel zunächst die katastrophale Versorgungslage. Kaum vier Wochen nach Beginn des Feldzuges schickte Napoleon am 21. Juli einen Hilferuf an seine rückwärtigen Kommandeure: „Wir sind in höchster Not!“, weil man kaum noch über Transportmöglichkeiten für Lebensmittel verfügte. Es stellte sich heraus, daß die üblichen Proviantwagen für die grundlosen Wege Rußlands viel zu schwer waren und regelmäßig bis zur Achse in Sand oder Morast steckenblieben. Der sächsische General Ferdinand von Funck vom 7. Armeekorps berichtete über die Situation Ende Juli: „So geschah es denn, daß wir zuletzt auf mehr als 1.200 Bauernwagen für vier bis fünf Tage Brot nachschleppten und doch den bittersten Hunger litten, weil diese Wagen uns nie erreichten.“

Sogar ein treuer Anhänger Napoleons wie General Philippe Ségur tadelte im nachhinein seinen kaiserlichen Gebieter: „So ließ er die Russen mit 400.000 Mann verfolgen, die nur für zwanzig Tage Lebensmittel hatten, und dies in einem Land, welches einst nicht einmal die 20.000 Schweden Karls XII. zu ernähren vormochte.“ Soldaten, die sich Nahrung durch Plündern beschafften, wurden zunächst unbarmherzig erschossen. Doch bald sah man aus Mangel an Kämpfern davon ab. Noch einmal Ségur: „Wenn uns die Plünderer teils mit mühsam unterdrückter Verzweiflung ansahen, teils in Tränen ausbrechend sich beklagten, daß man sie vor Hunger verrecken lassen wolle, da gaben wir ihnen ihre Beute wieder zurück.“

Anfang August mehrten sich die Hungertoten. So schrieb der württembergische Militärarzt Heinrich von Roos am 8. August „von den vielen Leichen der Krieger, die durch Hitze, Hunger und Durst umgekommen waren, von verschmachtetem Vieh und von den Krankheiten, die in allen Lagern herrschten“. Es zeigte sich, daß Napoleons Generalstab den Feldzug miserabel geplant, vor allem die Versorgungsprobleme sträflich unterschätzt hatte. Auch das Wetter erwies sich nicht gerade als Verbündeter des Franzosenkaisers. Auf anfängliche Regengüsse folgte unbarmherziger Sonnenschein. Am 18. August klagte der Kaiser: „Die Hitze ist furchtbar, es gibt viel Staub, was uns ziemlich mitnimmt.“

Namentlich um das Lazarettwesen war es desolat bestellt. Ein Offizier der polnischen „Weichsel-Legion“ konstatierte Anfang August: „Ich habe unendlich viele Soldaten auf dem Wege sitzend und liegend gesehen, die hier auch ihr Ende fanden. Nirgends fand sich eine sorgende, pflegende Hand, welche sich ihrer annahm.“ Die Zustände während des Vormarsches waren derart unerträglich, daß es sogar gehäuft zu Selbstmorden kam. Der erwähnte Leutnant Christian von Martens notierte am 14. Juli: „Major von Lindner aus dem 4. Regiment war seines Lebens so überdrüssig, daß er sich in einer Hütte mittels seines Rasiermessers den Hals durchschnitt; man fand ihn diesen Morgen in seinem Blute liegend.“

Die deutschen Soldaten leiden besonders, denn sie werden fast ausschließlich von französischen Generalen kommandiert und als Kanonenfutter mißbraucht. Voller Spott schrieb Napoleon an seinen Marschall Davout: „Was ist denn zu befürchten von einem so braven, so vernünftigen, so kalten, so geduldigen Volk, das von jeder Ausschreitung weit entfernt ist.“ Das westfälische Korps wurde etwa dem General Andoche Junot unterstellt, einem halbirren Neurotiker, der ein Jahr später aus dem Fenster sprangt, weil er sich für einen Vogel hielt. Dementsprechend horrend fielen die Verluste aus. Ein Beispiel: 27.000 Soldaten aus Westfalen zogen in den Krieg – nur 800 überlebten den mörderischen Feldzug.

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