© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/12 22. Juni 2012

„Warum verspäten wir uns immer?“
Thomas Kühn und Ralf Hoffmann präsentieren erhellende Details aus der Operationsführung der Roten Armee im Sommer 1941
Heinz Magenheimer

Die Autoren des Buches „Die Grenzschlacht“ beweisen Mut, da sie einige bisher als „sakrosankt“ geltende Thesen kurzerhand über Bord werfen. So stellen sie fest, daß Werner von der Schulenburg, der deutsche Gesandte, am Morgen des 22. Juni Molotow die Kriegserklärung überreicht habe. Es handelte sich um das sogenannte „Memorandum“, das meist ignoriert wird. Auch andere hochinteressante Aussagen verdienen Lob. So wird die These vom „Überfall“ auf die Sowjetunion widerlegt, denn die Rote Armee war umfassend auf einen möglichen Krieg mit Deutschland vorbereitet, eine These, die noch immer als anrüchig gilt.

Der sowjetische Aufmarsch im Frühjahr 1941 wird im Rahmen der ersten und zweiten „strategischen Staffel“ professionell dargestellt, und man vergißt auch nicht die dritte Staffel. Die vorgelegten Zahlen unterscheiden sich angenehm von vielen beschönigenden, der Wahrheit widersprechenden Angaben. Militärdoktrin, Mobilmachung, Gliederung und Bewaffnung der Großverbände sowie die Konzeption der „Grenzschlacht“ werden ausführlich und plausibel dargestellt.

In vieler Hinsicht schließt das Buch an Bogdan Musials „Kampfplatz Deutschland“ (2008), aber auch an Viktor Suworows „Eisbrecher“ an, indem es die riesigen Rüstungsanstrengungen der Sowjetunion seit Mitte der dreißiger Jahre hervorhebt, um die stärkste Streitmacht der Welt zu schaffen. Daß aber 1941 die Zeit nicht ausreichte, um die Massen an Reservisten zu Verbänden mit hoher Kohäsion zu formen und aus den 26 mechanisierten Korps westlich des Urals schlagkräftige Formationen zu bilden, gehört ins Bild. Die Rote Armee hatte im Juni 1941 zwar noch nicht völlständig ihre Verfügungsräume eingenommen, doch könnte die pauschale These, daß die Armee nicht „kriegsbereit“ gewesen sei, in die Irre führen. Entscheidend ist nämlich nicht, ob man eine Armee subjektiv als „kriegsbereit“ beurteilt, sondern ob der politische Wille besteht, diese Armee auch einzusetzen. Betonen doch die Autoren selbst, daß die Rote Armee angriffsorientiert gewesen und daß es 1941 nicht um die Verteidigung des Sowjetlandes gegangen sei.

Daß während des Aufmarsches, der insgesamt 248 Divisionen und 17 Brigaden, darunter 53 Panzerdivisionen, umfaßte, zahlreiche Pannen auftraten, daß das Eisenbahnnetz überlastet war und die Truppen viele Mängel aufwiesen, ist hinlänglich erforscht. Es stimmt, daß die offensive Dislozierung der ersten strategischen Staffel eine Hauptursache für die verheerenden Niederlagen der späteren „Westfront“ war. Ein kühl abwägender Generalstabschef hätte einen ganz anderen Aufmarsch gewählt.

Bei der Quellenbasis hätte sich eine Verbreiterung gelohnt. So aufschlußreich der Schukow-Timoschenko-Plan vom 15. Mai 1941 auch sein mag, es gibt Dokumente mit größerer Aussagekraft, so die vier Aufmarschanweisungen Georgi Schukows an die westlichen Militärbezirke ab dem 20. Mai, eine Quelle, die seit 1998 vorliegt. Auch die monatlichen sowjetischen Kriegsgliederungen für 1941 und der Aufmarschplan General Nikolai Watutins vom 13. Juni wären hilfreich gewesen. Dieser sah eine gigantische Konzentration von zehn Armeen an der Südwest- und Südfront für eine Offensive aus dem Raum Kowel–Lemberg–Stryj in Richtung Mittel- und Südpolen vor. Der beiderseitige Aufmarsch glich einem Wettlauf. Nicht umsonst fragte Stalin am Morgen des 22. Juni Schukow barsch: „Warum verspäten wir uns immer?“

Manchmal neigen die Autoren zu saloppen Aussagen, zum Beispiel daß man die von Molotow im November 1940 in Berlin gemachten Aussagen bezüglich der vitalen Interessen an Finnland, Jugoslawien, Rumänien und Bulgarien sowie die Kontrolle über die Ostseeausgänge als „Friedensangebot“ einordnen könne. Bei Lichte besehen, überschritt dieses Ansinnen deutlich die Grenze des einer Großmacht Zumutbaren. Molotow dürfte vielmehr auszuloten versucht haben, wo die deutsche „Schmerzgrenze“ lag. Des weiteren: Die deutschen Panzerspitzen waren Ende Juli 1941 nicht 200 Kilometer, sondern 300 Kilometer von Moskau entfernt, General Erich von Manstein führte niemals die Panzergruppe 3, und diese Panzergruppe wurde auch nicht vor Leningrad eingesetzt. Die entscheidende Wende wurde nicht durch „General Winter“, sondern durch die Schlammperiode bewirkt, die schon am 13./14. Oktober mit voller Wucht einsetzte und nicht erst Ende Oktober. Die Naturgewalten erstickten die deutsche Verfolgung nach ihrem Sieg in der Schlacht von Wjasma-Brjansk in Schlamm und Morast, so daß Schukow die nötige Zeit für die Zuführung von Reserven gewann.

Jedenfalls bieten die Grenzschlachten hochinteressante Details. Dazu zählen die persönlichen Versuche des brutalen Schukow, fünf mechanisierte Korps der Südwestfront ab 23. Juni zum Angriff gegen die deutschen Stoßkeile voranzutreiben. Es stimmt, daß es die „Volkswehrverbände“ waren, die das Rückgrat des Gegenangriffes vor Moskau bildeten. Das „Geheimnis“ der Roten Armee lag vor allem in der bereits vor Kriegsbeginn eingeleiteten Dauermobilmachung, die es erlaubte, bis Ende Dezember allein 257 Schützendivisionen aufzustellen, während man bis dahin schon 5,5 Millionen Mann an Gesamtverlusten eingebüßt hatte. Man gewinnt den Eindruck, daß sich die Autoren im Text bei Erörterungen zurückhalten, aber in den Fußnoten zu argumentativer Höchstform auflaufen. Alles in allem: ein lesens- und empfehlenswertes Buch.

 

Dr. Heinz Magenheimer ist Militärhistoriker und lehrte an der Landesverteidigungsakademie Wien und an der Universität Salzburg

Thomas Kühn, Ralf Hoffmann: Die Grenzschlacht. Die Operationsführung der Roten Armee ab Juni 1941. Helios Verlag, Aachen 2011, gebunden, 335 Seiten, 34 Euro

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