© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/12 29. Juni 2012

„Das ist eine Wunschvorstellung“
Ist die von der Politik geforderte „politische Union“ überhaupt möglich? Nein, sagt der ehemalige Landesverfassungsrichter Detlef Merten
Moritz Schwarz

Herr Professor Merten, kann die Politik tatsächlich eine politische Union nicht durchsetzen, wie Wolfram Ehlers sagt?

Merten: Nein, das ist eine politische Wunschvorstellung.

Warum sprechen Frau Merkel und Herr Schäuble dann davon?

Merten: Man sollte die Frage nicht personalisieren. Die Politik steht in der Euro-Krise inzwischen am Abgrund, und es müssen irgendwelche Luftschlösser her, die davon ablenken.

Aber warum sollte eine politische Union nicht möglich sein?

Merten: Schon weil es für eine Änderung des Unionsvertrages die Zustimmung aller anderen Mitgliedstaaten braucht, und dazu sind in einigen Ländern Volksabstimmungen erforderlich.

Es könnte zu einem Europa der zwei Geschwindigkeiten kommen, in dem eine „Koalition der Willigen“ den Nukleus eines EU-Bundesstaates schafft.

Merten: Nein! Das Bundesverfassungsgericht hat betont, die Europäische Union ist eine „Vertragsunion“ souveräner Staaten. Deshalb wird jetzt ja von Volksabstimmung gesprochen, denn unter unserem Grundgesetz bleiben die Vereinigten Staaten von Europa ein Traum.

Aber Karlsruhe hat immer wieder der Abgabe von Souveränitätsrechten zugestimmt.

Merten: Ja, aber nicht der Abgabe der vollen Souveränität. Es muß, so sagt es das Bundesverfassungsgericht etwa im Lissabon-Urteil, ein unantastbarer Kern an Verfassungsidentität und ausreichender Raum zur politischen Gestaltung gewahrt bleiben.

Was bedeutet?

Merten: Es muß der Bundestag sein, der wichtige Gesetze beschließt, vor allem das Haushaltsrecht darf ihm nicht genommen werden.

Warum der Bundestag, warum nicht das – reformierte – Europäische Parlament?

Merten: Weil der Bundestag grundlegende Funktionen der deutschen Staatlichkeit wahrnimmt und deutsche Verfassungsidentität verkörpert – die darf laut Grundgesetz nicht aufgegeben werden.Wenn er nicht mehr über den Haushalt und über die politische Gestaltung in fundamentalen Fragen entscheiden dürfte, wäre definitiv das Ende erreicht, dann erlischt echte Staatlichkeit.

Aber in Artikel 23 des Grundgesetzes heißt es: „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit.“

Merten: Ja, aber ein „vereintes Europa“, so sagt Karlsruhe, ist ein Staatenverbund und nicht ein Bundesstaat.

Genau so wird „vereintes Europa“ aber von vielen Leuten verstanden.

Merten: Mag sein, aber entscheidend ist hier das Verständnis der Verfassung.

Wenn der Lösungsweg einer „politischen Union“ gar keine Zukunft hat, was wird dann tatsächlich passieren?

Merten: Man wird die Euro-Krise nicht in den Griff bekommen, weil man sich einem Traumgebilde hingibt, statt nach einer realistischen Lösung zu streben.

Die wie aussehen müßte?

Merten: Etwa eine Austrittspflicht oder ein Ausschlußrecht aus der Währungsunion, die es ermöglicht, Konsequenzen zu ziehen, wenn ein Staat die Kriterien nicht mehr erfüllen kann.

Sie sagen, das Recht verbietet die Aufgabe der Souveränität. Das Recht verbot aber auch den Bruch des Maastricht-Vertrags. Doch dessen Bruch wird nun mit der Verabschiedung des dauerhaften Euro-Rettungsschirms ESM sogar legitimiert.

Merten: Als Staatsrechtler kann ich natürlich nur auf die rechtlichen Konsequenzen aufmerksam machen. Immerhin wird sich das Bundesverfassungsgericht nicht ohne Grund mit dem Bundespräsidenten darüber verständigt haben, daß dieser den ESM-Vertrag nicht unterzeichnet, bevor das Gericht die angekündigten Klagen dagegen geprüft hat.

Die „Welt“ schreibt: „Das neue Europa kommt quasi als Notverordnung.“

Merten: Von so pointierten Formulierungen halte ich nichts. Und mit einer Notverordnung, wie weiland in der Weimarer Republik, hat das nichts zu tun.

Die „Welt“ spielt wohl auf den Umstand an, daß das Konzept für eine „politische Union“ nicht von einem Verfassungskonvent, sondern von einem Küchenkabinett, nämlich den Herren Barroso, Van Rompuy, Juncker und Draghi erarbeitet werden soll.

Merten: Es ist schon auffällig, daß der Prozeß sehr auf die Exekutive konzentriert ist, statt auf der Arbeit der Legislative zu fußen. Und offensichtlich wird die Krise dazu genutzt, die Vorstellungen der Exekutive bei der Legislative ohne große Debatte durchzupeitschen. Das ist nicht transparent und paßt in eine Reihe mit all diesen „Umständen“, wie ständig kurzfristige Termine zu setzen oder das Nicht-Informieren der Abgeordneten. Das ist letztlich ein Stil wie in der Kabinettspolitik des 19. Jahrhunderts und in der Tat kritikwürdig. Ebenso, daß manche offenbar am liebsten ein neues Ermächtigungsgesetz schaffen würden – diesen Ausdruck verwende ich jetzt bewußt –, also einen Zustand, bei dem man alles aus der Hand gibt und am Ende nicht mehr zurückkann.

So ist das zum Beispiel beim dauerhaften Euro-Rettungsschirm ESM, den der Bundestag am 29. Juni beschließt.

Merten: Nämlich insofern, als der Gouverneursrat – das Leitungsgremium des ESM – nach allem, was man in der Presse liest, jederzeit weitere Mittel über die vereinbarte Haftungssumme hinaus anfordern kann. Diese beträgt im deutschen Fall etwa 200 Milliarden Euro, und das wäre eine Ausschaltung des Bundestages, weil dann Mittel flössen, über die dieser nicht mehr entscheiden kann. Übrigens: Auf der anderen Seite soll über die Einhaltung der Richtlinien des ESM durch verschuldete Staaten der Europäische Gerichtshof wachen.

Ist das ein Problem?

Merten: Natürlich! Abgesehen davon, daß man gar keine Möglichkeit hat, einen völlig verschuldeten Staat zu bestrafen – außer Sie setzen im wahrsten Sinne des Wortes Peer Steinbrücks „Kavallerie“ ein –, ist der ESM, ebenso übrigens wie der Fiskalpakt, nicht Teil des europäischen Vertragswerks, sondern eine völkerrechtliche Vereinbarung von 17 Staaten. Dafür ist der Europäische Gerichtshof als Organ der Europäischen Union nicht ohne weiteres zuständig, weil er nur nach Maßgabe der europäischen Verträge entscheidet.

Im Ernstfall könnte er also gar nicht tätig werden?

Merten: Das steht zu befürchten.

Was also zeigt, wie „ernst“ das Ganze gemeint ist?

Merten: Auf diesen Gedanken kann man leider kommen.

 

Prof. Dr. Detlef Merten, der Verfassungsrechtler war Richter am Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz sowie Rektor der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Außerdem ist er Mitherausgeber der „Schriften zum Europäischen Recht“ und – zusammen mit dem ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier – des „Handbuchs der Grundrechte in Deutschland und Europa“. Geboren wurde er 1937 in Berlin.

 

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