© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/12 29. Juni 2012

Dem Volk auf Maul schauen
Potsdam: Debatte über direkte Demokratie in Deutschland
Ekkehard Schultz

Die aktuelle Diskussion um eine mögliche Volksabstimmung im Zusammenhang mit der Übertragung weiterer Souveränitätsrechte an die EU (siehe Seite 5) hat die Debatte über die direkte Demokratie in Deutschland neu belebt. Dabei stellt sich die Frage, wie groß die Möglichkeiten einer unmittelbaren Mitbestimmung der Bürger heute bereits sind? Wird die Bedeutung der repräsentativen Demokratie schwinden? Oder sind beide Demokratieformen miteinander vereinbar und in der Lage, sich gegenseitig zu stärken? Was bedeutet die Ausdehnung direktdemokratischer Elemente für die Stellung der Parlamente?

Um Antworten auf diese Fragen zu finden, lud die brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung in Potsdam zu einer Podiumsdiskussion ein. Dabei wies der brandenburgische SPD-Landtagsabgeordnete Sören Kosanke auf die Notwendigkeit hin, zunächst einmal die Begriffe klarer zu definieren. Generell sei die Politik in der Demokratie darauf ausgerichtet, möglichst viele Menschen an den einzelnen Entscheidungen zu beteiligen und ihre Interessen zu berücksichtigen. Zudem sollten wenige Bürger von den Entscheidungen in negativer Weise betroffen werden, erforderliche Härten seien möglichst gerecht zu verteilen. Daraus folge gleichwohl, daß es Politiker „nie allen recht machen“ könnten, aber „idealerweise so vielen wie möglich“. Diese Grundsätze seien stets auch bei der Wahl von repräsentativen und direkten Demokratieformen zu prüfen.

Die wesentliche Kritik an den traditionellen Regularien der repräsentativen Demokratie ergebe sich daraus, auf welche Weise der einzelne Politiker seine Entscheidungen treffe, so Kosanke. Dabei sei jeder einzelne Parlamentarier den vielfältigsten Einflüssen ausgesetzt. So könnten sowohl die Mitglieder der eigenen Partei, Vereine und Lobbygruppen, aber auch Nachbarn, Freunde und Bekannte das Abstimmungsverhalten beeinflussen. Da dies aus verständlichen Gründen von den Politikern nur selten offen dargestellt werde, verstärke dies wiederum das Unbehagen des Souveräns an der mangelnden Transparenz. Um diese Situation zu durchbrechen, könnten Plebiszite eine wesentliche Rolle spielen.

Der Berliner Piraten-Abgeordnete Martin Delius erläuterte, daß seine Partei entgegen der verbreiteten Meinung kein klassischer Befürworter der direkten Demokratie sei. Vielmehr wollten die Piraten keine größere Einschränkung der traditionellen Elemente, vielmehr sollten diese ergänzt werden. Deswegen favorisierten die Piraten das Modell der sogenannten „Liquid Democraty“, die eine „zukunftweisende Bürgerbeteiligung in Organisationen, Verwaltung und Politik“ anstrebe. Generell hätten sich die Möglichkeiten der politischen Teilhabe in den vergangenen Jahren vor allem durch die Verbreitung des Internets deutlich erweitert, so Delius. Am deutlichsten sei diese Erweiterung in den Teilen der Gesellschaft spürbar, die sich nicht in das Korsett einer klassischen Partei zwängen ließen. Allerdings gebe es dabei zwei große Probleme: Zum einen zeige sich, daß die bisherigen Anträge und Initiativen für Plebiszite entweder von Kleingruppen oder – nach parlamentarischem Vorbild – von wenigen professionell Befähigten ausgegangen seien. Zudem hätten nicht alle Menschen Zeit, sich selbst an den Ausarbeitungen, den begleitenden Diskussionen und schließlich auch an den Abstimmungen zu beteiligen.

Dagegen nutzte Tobias Montag von der Konrad-Adenauer-Stiftung die Möglichkeit, vor allem für die repräsentative Demokratie zu werben. Eine große Rückkopplung zum Bürger sei schon deswegen gegeben, da die Politiker in regelmäßigem Abstand erneut gewählt werden wollten. Problematisch sei bei der direkten Demokratie vor allem, daß die Regierung und die Exekutive gestärkt würden. Dagegen würden sowohl der Parlamentarismus als auch die Parlamente an sich geschwächt, die wichtigen Kontrollfunktionen eingeschränkt. Dies liege jedoch keineswegs im Interesse vieler Bürger. Montag wies das Argument zurück, daß durch die bestehenden Parteien die Bevölkerungsmehrheit nicht vertreten würde.

Nach Ansicht aller Teilnehmer ist ein Maßstab für die unterschiedlichen Demokratieformen der in der Verfassung verankerte Minderheitenschutz. In diesem Zusammenhang stufte es Delius als problematisch ein, wenn „Mehrheiten über Minderheiteninteressen entscheiden“ könnten, wie es bei der Volksabstimmung zum Minarett-Verbot in der Schweiz der Fall gewesen sei. Dies wäre jedoch kein grundsätzliches Argument gegen die direkte Demokratie. Allerdings sei es notwendig, zunächst die Verfassungsmäßigkeit von möglichen Entscheidungen genauer zu prüfen, bevor das Plebiszit selbst umgesetzt würde. Dagegen verwies Montag darauf, daß aus seiner Sicht das Gebot des Minderheitenschutzes für den Erhalt der repräsentativen Demokratie spreche. Dort sei etwa durch die Festlegung der Zusammensetzung von öffentlichen Institutionen und überparteilichen Gremien als auch durch besondere Wahlklauseln, die etwa für die dänische Minderheit in Schleswig-Holstein gelten, dieser Grundsatz besser durchsetzbar.

Einig waren sich indes alle Diskutanten auch in der Frage, daß die bislang eher verhaltene Beteiligung an Plebisziten auf lokaler Ebene keineswegs auf ein allgemeines Desinteresse zurückzuführen sei. Vielmehr sei davon auszugehen, daß der Bürger seine erweiterten Rechte im Laufe der Zeit besser nutzen würden. Dazu würde allein schon bessere Informationen und eindeutige Regeln beitragen.

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