© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/12 29. Juni 2012

Der Erste Geiger tut’s im Grunde auch
Die Musikwelt grinst vergnügt: Das experimentierfreudige Orchester „Spira mirabilis“ spielt ohne Dirigent
Andreas Wild

Viel Aufsehen wird in den Medien zur Zeit um das internationale Orchesterkollektiv „Spira mirabilis“ gemacht, weil es ohne Dirigent auftritt. „Wir kommen sehr gut ohne Dirigent aus“, verkünden die jungen Orchestermitglieder stolz. Aber die Musikwelt kann darüber nur vergnügt grinsen. Denn alle, die es wissen wollen, wissen längst Bescheid.

In bester Erinnerung noch ist der Streit um Roberto Benzi, der in Paris die Oper „Werther“ von Jules Massenet dirigieren wollte. Schon während der Proben hatte es Mißhelligkeiten zwischen dem Dirigenten und dem Orchester gegeben, und als nun Benzi bei der Premiere merkte, daß die Musiker wiederum nicht auf seine Anweisungen eingingen, schmiß er plötzlich mitten im dritten Akt den Taktstock krachend in den Orchestergraben und verließ mit wehenden Frackschößen das Pult.

Er hatte wohl geglaubt, damit die Aufführung spektakulär zu Fall gebracht zu haben – aber siehe, die Musik ging weiter, als sei nichts gewesen, und als sich am Ende der Konzertmeister statt des Dirigenten vor dem Publikum verbeugte, gab es viel Beifall, vermischt mit Gelächter und Buhrufen für den abwesenden Benzi. Der Maestro hatte also ganz umsonst demonstriert. Genauer: Er hatte demonstriert, daß es auch ohne den Dirigenten geht und manchmal sogar besser als mit ihm.

Im Grunde ist das Dirigat noch keine zweihundert Jahre alt; jahrhundertelang hat man ohne Dirigenten gespielt; der Orchesterpianist korrigierte während der Proben anhand der Partitur die Fehler, und der Erste Geiger gab mit seinem Bogen das Tempo an. Lediglich bei großen Massenauftritten engagierte man einen Taktschläger, der aber nicht die geringste Befehlsgewalt hatte. Er war eine Art lebendes Metronom und wurde vor dem Publikum in der Kulisse versteckt.

Pianisten mit Organisationstalent, phänomenalem Gedächtnis und einem Hang zur Effekthascherei gebärdeten sich dann um 1850 erstmals als „Dirigent“: Liszt, Bülow, natürlich Wagner, und dem Publikum gefiel es prima. Seitdem will man bei Musikaufführungen unbedingt einen Dirigenten. Auch die Jungen von „Spira mirabilis“ werden das zu spüren bekommen.

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