© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/12 29. Juni 2012

Der Flaneur
Lesende Schönheit
Ellen Kositza

Der Zug ist einigermaßen leer, eine Abendfahrt. Auf dem Vierersitz nebenan feilt eine junge Frau hingebungsvoll ihre Nägel. Sie ist schön, zumal nach konventionellen Maßstäben: Glatte, mäßig gebräunte Beine, die Hacken der Sandalen gerade so hoch, daß es reizvoll, aber nicht unanständig wirkt, der Rock ebenso – er endet knapp überm Knie. Die Arme, die das anliegende, allerdings nicht ordinär enge Top freigibt, sind schlank, nicht mager.

Die langen glatten Haare sind vermutlich gefärbt, ein dünner Ansatz im Scheitel verrät es, ein natürlich wirkendes Mittelblond. Im Verlauf einer Stunde kommen drei verschiedene Lacke zum Einsatz. Nur selten rüttelt die Bahn, die Schöne gleicht das gekonnt aus. Farbig wird hier nichts, mutmaßlich entstehen hier dezente french nails mit strahlend weißen Nagelspitzen, die hingegen nicht spitz, sondern fast gerade und nicht allzu lang sind.

Genau kann ich es nicht erkennen. Drei, vier Anrufe per Smartphone sind zwischendurch zu bewerkstelligen. Sie spricht gedämpft, ich höre dennoch mit: Nichtigkeiten. Gelegentlich wird ein Schluck Wasser getrunken, Evian, sie gießt es in ein mitgeführtes Becherchen. In der zweiten Reisestunde holt die Schöne mit ihren frischgemachten Nägeln ein gelbes Büchlein hervor und liest. Ausgiebig, hingesunken. Oder döst sie unter der Lektüre weg?

Ein paarmal seufzt sie leise. Aus Anstrengung? Aus geistigem Genuß? Jedenfalls wahrt sie Haltung, sitzt aufrecht, mäßig entspannt. Kurz verläßt sie ihren Platz, nicht ohne den aufschauenden Mitreisenden zurückhaltend unter schier meterlang getuschten Wimpern zuzulächeln. Ein teures Parfum durchzieht den Zugwagen, blumig-frisch zunächst, dann doch mit dunklem Nachhall, Moschus.

Das Büchlein hat sie nicht schnöde aufgeschlagen und umgedreht zurückgelassen; sie hat ein ledernes Lesezeichen hineingelegt. Ich erhebe mich, wie um am eigenen Koffer über mir zu hantieren und äuge herüber: Dort liegt Friedrich Hölderlin: „Der Tod des Empedokles“.

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